Manche Delegierte fluchen über die weite Anreise – Dresden scheint am anderen Ende der Welt. Zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung ist es dennoch ein starkes Symbol, dass wir das Grüne Europawahlprogramm so nah an der tschechischen und polnischen Grenze verabschieden. Grenzen, die jetzt endlich durchlässig sind.
Der Kontext, in dem wir das Europawahlprogramm verabschieden, ist wahrlich nicht der einfachste: eine EU, die sich schon seit vier Jahren im Dauerkrisenmechanismus befindet, Menschen, die ihr Vertrauen in die EU verloren haben, erstarkender Rechtspopulismus, eine Grüne Fraktion im Europaparlament, die (um es diplomatisch auszudrücken) aller Wahrscheinlichkeit nach nicht größer wird in der nächsten Legislatur und die eigene Verunsicherung nach dem schlechten Ergebnis bei der Bundestagswahl.
Unsere Botschaft, die von der BDK ausgeht, lautet: Wir Grüne sind diejenigen in Deutschland, die uneingeschränkt zur europäischen Integration stehen, weil Klimawandel oder Umweltverschmutzung nicht an den Grenzen halt machen und die EU der Ort ist, wo wir viele Elemente unserer Politik am besten umsetzen können. Aber ein „Weiter So“ gibt es mit uns nicht, denn wir wollen Europa sozial und ökologisch erneuern. In den kommenden Monaten wird es darum gehen, alles zu versuchen, damit diese Botschaft auch durchdringt und bei den Menschen ankommt. Und es wird auch darum gehen, Europa zu erklären und europäische Politik von Brüssel auf die Straßen zu tragen, um Populismus und EU-Verdruss entgegen zu treten.
Viele Diskussionen zum Programm wurden im Vorfeld geführt und Kompromisse gefunden. Spannende Debatten gab es dennoch: Wie interpretieren wir das eigene Abstimmungsverhalten zu den Krisenmaßnahmen im Bundestag? Wollen wir einen Konvent zur Zukunft der EU? Wollen wir die EU-Kommission verkleinern oder nicht? Wollen wir das Ziel, die EU in einen föderalen Bundesstaat weiter zu entwickeln, in unserem Programm festschreiben? Meistens setzte sich ziemlich deutlich die Linie des Bundesvorstandes durch. Zwei Abstimmungen waren ganz besonders kontrovers. Bei der Frage, ob wir uns für eine europäische Armee einsetzen sollen, hat sich die Mitte-Position durchgesetzt. Wir wollen eine Integration der Streitkräfte in der EU mit dem erklärten Ziel einer Verkleinerung, rufen aber nicht gleich eine „europäische Armee“ ins Leben, auch weil damit zu viele ungelöste Fragen wie der Parlamentsvorbehalt einhergehen. Die zweite große und medial sehr beachtete Diskussion ging um TTIP. Hier wurde klar, weitere Verhandlungen unter diesem Mandat sind für uns keine Option. Eine Variante, die lediglich „rote Linien“ für eine Zustimmung markieren wollte, fiel sofort beim ersten Meinungsbild bei den Delegierten durch. Zwar hätte ich mich gefreut, wenn sich in der Schlussabstimmung ein klares „stopp“ durchgesetzt hätte, doch auch die nun beschlossene Variante: Verhandlungen aussetzen und Neustart unter komplett neuen Voraussetzungen zeigt, dass wir Grüne uns klar gegen ein solches Abkommen stellen, das Grünen Prinzipien fundamental entgegensteht.
Der große „showdown“ der BDK war natürlich die Listenaufstellung und insbesondere die Frage in welcher Reihenfolge die ersten vier Plätze aufgestellt werden. Es gab viel Mobilisierung, buttons und Flyer der KandidatInnen, in den Gängen wurden Wetten über Platz eins abgehalten, die Spannung war in der Luft zu spüren. Und eines wurde bei den Vorstellungen klar: Keine andere Partei brennt so für Europa! Keine will Europa so sehr, aber traut sich gleichzeitig auch zu sagen, was noch alles verändert werden soll. Das Ergebnis der Reihenfolge ist ja hinlänglich bekannt – die Begeisterung und die tollen Reden wohl weniger, doch genau die müssen nun alle Kandidat*innen ins Land tragen. Mit dem „Spitzen-Kleeblatt“ haben wir nun vier PolitikerInnen, deren Profile und Stärken unterschiedlicher nicht sein könnten, was mit Sicherheit ein großer Gewinn für den Wahlkampf ist.