Der Gesamteindruck von schwarz-gelber Regierungspolitik könnte 50 Tage vor der Wahl schlechter nicht sein: Die Merkel-Rösler-Regierung schlittert immer tiefer in den Überwachungsskandal. Trotz des Auftritts von Ronald Pofalla vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium ist weiterhin unklar, wie viel die Bundesregierung im Rahmen des NSA-Abhörskandals wirklich wusste und billigte. Während die Kanzlerin kurz vor der Wahl drei Wochen im Urlaub weilt, kommen immer neue belastende Details gegen Minister de Maizière in der „Euro Hawk“-Affäre und zunehmender Protest von Eltern gegen die dreist schöngerechneten Zahlen von Ministerin Schröder zum Kita-Ausbau. Und statt ausreichend Kitaplätze (seit 1. August gibt es endlich den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz) und entsprechende Investitionen in die Infrastruktur, vergibt Schwarz-Gelb lieber eine Prämie für die heimische Erziehung ein- und zweijähriger Kinder. Das dahinterstehende Familienbild: Kittelschürze statt Karriereleiter, Abwasch statt Aufstieg. Willkommen, liebe Union, im Jahr 2013! Die Nachfrage junger Eltern nach der anachronistischen Maßnahme ist entsprechend gering. Schon jetzt gilt als ausgemacht, dass das Betreuungsgeld ein Ladenhüter sein wird (siehe Süddeutsche Zeitung vom 29.07.2013). Dauerpräsent ist zudem auch „Merkelplag“, der schwarz-gelbe Themenklau bei der politischen Konkurrenz, der nicht nur einen gewissen Stil, sondern auch einen eigenen gesellschaftspolitischen Kompass vermissen lässt.
Zur schwarz-gelben Ideenlosigkeit mischen sich Tatenlosigkeit und schlechtes Regierungshandwerk. Gegen die zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft oder für mehr Perspektiven junger arbeitsloser Menschen in Europa hat Schwarz-Gelb zurzeit leider kein wirkliches Angebot im politischen Portfolio. Und statt aktiv Politik zu gestalten, erleben wir im Regierungsalltag immer wieder ein lähmendes Zögern, Zaudern und Durchlavieren. Die „Merkelei“ geht dabei über die Drohnen- und Spähaffären weit hinaus und deckt von der stockenden Energiewende über die ungelöste Frage der Frauenquote bis hin zu allenfalls halbherzigen Vorschlägen für ein „ganz bisschen“ Mindestlohn fast alle Politikfelder ab. Nicht ganz zu unrecht hat der Philosoph Ulrich Beck diese Beliebigkeit mit einem machiavellistischen Totalpragmatismus verglichen und den Begriff „Merkiavellismus“ geprägt.
Schwarz-Gelb und Rot-Grün in Zahlen
Angesichts dieser desaströsen Bilanz müsste das Unbehagen mit dieser abgehalfterten Bundesregierung in der Bevölkerung groß sein. Nur spiegelt sich dieses Unbehagen in den derzeitigen Umfrageergebnissen bislang wenig wider. So sieht das ZDF-Politikbarometer der Forschungsgruppe Wahlen zehn Wochen vor der Bundestagswahl Schwarz-Gelb noch immer bei 46%, Rot-Grün hingegen bei rund 39% (Stand: 12.07.2013). Letztlich zeigt die Umfrage schonungslos, dass zwar die Unzufriedenheit der Regierungspolitik in Bezug auf konkrete Inhalte und Prozesse latent vorhanden sind, aber die eigenen rot-grünen Anhänger geschweige denn die Bürgerinnen und Bürger bereits ausreichend alarmiert und aktiviert sind. Drei Dinge sind im rot-grünen Lager jetzt gefragt: Mobilisierung, Mobilisierung, Mobilisierung. Denn – und das ist die gute Nachricht – das Rennen um eine progressive Mehrheit ist trotz der 7%-Differenz noch völlig offen. Alles ist möglich.
Inhalte statt Personen
Das Ruder kann noch rumgerissen werden. Dieser Blick auf Rot-Grün ist nicht nur zunehmend Gegenstand von Berichterstattung (siehe z.B. Christoph Seils in einem sehr lesenswerten Artikel im Cicero oder aktuell auch bei SPIEGEL Online), sondern lässt sich auch anhand von aktuellen Zahlen belegen: So halten beim schon angesprochenen ZDF-Politikbarometer 59% der Befragten die Wahl für „noch nicht entschieden“. Auch die persönlichen Beliebtheitswerte der Kanzlerin dürfen nicht darüber wegtäuschen, dass 57% der Befragten am Ende des Tages wichtiger finden, welche Parteien zusammen koalieren als die Frage, welcher Kandidat Kanzler wird (nur für 35% ist dies entscheidender).
Dass Inhalte wichtiger sind als Personen, beweist beispielsweise auch die Niedersachsen-Wahl Anfang 2013, bei der Schwarz-Gelb abgewählt wurde, obwohl David McAllister extrem hohe Zustimmungswerte hatte und über die Hälfte der Wählerinnen und Wähler ihn direkt gewählt hätten. Dies zeigt vor allem eines: Die Menschen wissen sehr wohl, dass am Ende nicht wirklich einzelne Kandidaten oder Parteiprogramme, sondern vor allem Koalitionsvereinbarungen* zählen. Und die Zustimmungswerte für ein rot-grünes Bündnis stimmen durchaus zuversichtlich: Im direkten Vergleich schneidet Rot-Grün deutlich besser ab als Schwarz-Gelb. Fast 40% bezeichnen Rot-Grün als „gut“, Schwarz-Gelb trotz der hohen Beliebtheitswerte der Kanzlerin lediglich 32%. Andere Zahlen, selber Trend: Im ARD-Deutschlandtrend von Anfang Juli sprachen sich nur knapp ein Drittel für die Fortsetzung von Schwarz-Gelb aus, über die Hälfte der Befragten (ganze 55%) wünschten sich einen Regierungswechsel.
Rot-Grün verfügt über große Mobilisierungspotenziale – im Gegensatz zu Schwarz-Gelb
SPD und Grüne sind also gut beraten, sich gemeinsam von Schwarz-Gelb abzugrenzen und bei aller Eigenständigkeit ihre Kräfte im Wahlkampf so gut es geht zu bündeln. Dann wird das gelingen, was Rot-Grün braucht: ein Wählerswing von rund 5% (Stand: Mitte Juli 2013), was nicht wenig, aber machbar ist. Denn während gerade die Union ihr Wählerpotenzial bereits völlig ausgeschöpft hat und es im Grunde nur noch abwärts gehen kann, hat Rot-Grün noch viel ungehobenes Potenzial, um in der Wählergunst auf den letzten Metern um einige Prozentpunkte zulegen.
Was in puncto rot-grüne Schluss-Mobilisierung optimistisch stimmt und auch schwarz-gelbe Wahlkämpfer immer wieder nicht neidlos anerkennen: die progressiven Parteien SPD und Grüne zeichnen sich traditionell durch hohe Kampagnenfähigkeit auf der Zielgeraden aus. Beide haben in der Vergangenheit nicht selten in den letzten 10-15 Wochen vor der Wahl enorme Mobilisierungskraft entfaltet. Die Bundestagswahlkämpfe von 2002 und 2005 bieten dafür gutes Anschauungsmaterial: 2005 lag Schwarz-Gelb den Umfragen zufolge 100 Tage vor der Wahl unglaubliche 16% vor Rot-Grün, 2002 immerhin 8,5%. In beiden Jahren lag Rot-Grün rechnerisch am Wahlabend vor Schwarz-Gelb, der nötige Wählerswing von rund 5% ist also nicht präzedenzlos, im Gegenteil: Im Jahr 2002 erreichte Rot-Grün bis zur Wahl einen Swing von fast 5%, 2005 sogar über 7% gegenüber Schwarz-Gelb. Das alles funktionierte 2009 freilich nicht: Aus der Großen Koalition war eine rot-grüne Kampagne nicht glaubwürdig genug, Merkels Strategie der sog. asymmetrischen Demobilisierung (siehe dazu einen lesenswerten Beitrag von Ralf Tils in der Berliner Republik) ging auf und verhinderte eine rot-grüne Mobilisierung fast vollständig.
Aufholjagd Jetzt!!
Damit es nicht wieder zu dieser brandgefährlichen schwarz-gelben Einschläferung kommt, braucht es im Jahr 2013 einen kreativen und lebendigen rot-grünen Wahlkampf, der ein gewisses Momentum auslöst. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es muss vor allem deutlich gemacht werden, dass es am 22. September wirklich um Etwas geht. Nämlich um ein konkretes Politikangebot, um eine Richtungsentscheidung, um den Wechsel: Rot-grün will eine moderne, gerechte, nachhaltige und auch wettbewerbsfähige Gesellschaft. Rot-Grün steht dabei für einen Politikstil, bei dem auch ein Lebensgefühl vieler Menschen zum Ausdruck kommt: Fortschritt und Zukunftsfreude statt Stillstand und Lethargie. Kooperieren und Gestalten statt Spalten und Verwalten. Um diese Botschaft zu vermitteln und einen Schlafwagenwahlkampf von Schwarz-Gelb zu verhindern, sollten alle rot-grünen Wahlkämpfer offensiv für ihre Werte und Positionen, ja letztlich für einen neuen rot-grünen Spirit werben. Dazu brauchen wir die Dynamik einer politischen Aufholjagd. Nicht erst morgen, sondern jetzt sofort.
* Eine erste Blaupause für eine rot-grüne Koalitionsvereinbarung liegt bereits vor: das „Rot-Grüne Manifest“ von #bewegungjetzt macht an vielen Punkten sehr deutlich, wofür Rot-Grün konkret steht und wie Rot-Grün im Falle des Wahlsieges gemeinsam regieren würde.
5. August 2013 um 14:24
Wobei ja die SPD kaum von der Spähaffäre profitieren könnte, sie könnte höchstens versuchen, Demobilisierung zu verhinden. Die Grünen dagegen könnten versuchen, den Piraten Stimmen abzujagen – auch wenn das Potential weitestgehend erschöpft ist.
Letztlich sind Nichtwähler wohl die einzige Hoffnung für Rot-Grün.