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YouTube, Twitter, Facebook – was bedeutet die Privatisierung der öffentlichen Meinungsbildung für die Demokratie?

Der Einfluss digitaler Plattformen wie YouTube, Facebook und Twitter auf die politische Meinungsbildung wird kontrovers diskutiert. Belastbare Studien sind Mangelware. Dennoch stellt sich die Frage: Dürfen wir tatenlos zuschauen, wie der politische Diskurs sich nach rechts verschiebt, weil die Wirkung der digitalen Plattformen zwar mit bloßem Auge sichtbar, aber komplex und nicht wissenschaftlich erwiesen ist? Der Zusammenhang zwischen dem Erstarken von Rassismus und Frauenfeindlichkeit sowie der Wahl rechtspopulistischer Regierungen weltweit auf der einen Seite und der hochfrequenten Aktivität rechter Gruppen im Internet auf der anderen muss für uns Grund genug sein, Gegenstrategien zu entwickeln. Ich möchte diese Korrelation kurz anhand des UN-Migrationspaktes erläutern und im Anschluss mögliche Lösungsansätze auf europäischer Ebene skizzieren.

Der UN-Migrationspakt und die digitalen Medien

Bis zum 16. September 2018 war der UN-Migrationspakt ein von Europa angestoßenes,  unumstrittenes internationales Dokument, das Prinzipien zum Schutz von Migrant*innen festlegt, die zu großen Teilen in Deutschland und Österreich bereits gelten und jetzt auch in anderen Teilen der Welt festgeschrieben werden sollen. Ab März 2018 verhandelte Österreich federführend für alle 27 Staaten der EU. Sebastian Kurz selbst hatte 2017, noch als Außenminister bei der UN-Vollversammlung, die Erarbeitung des Paktes mit den Worten begrüßt: „Das wird sicherstellen, dass es eine geordnete internationale Herangehensweise an diese Herausforderungen gibt.“ Am 13. Juli ging der fertige Text in Wien ein. Da regierte Kanzler Kurz bereits seit sieben Monaten gemeinsam mit der FPÖ. Erst drei Monate später kündigte Österreich, das zu diesem Zeitpunkt die Ratspräsidentschaft der EU innehatte, den Ausstieg aus dem Abkommen an. Was war geschehen?

Am 16. September 2018 veröffentlicht der österreichische Identitäre Martin Sellner ein YouTube-Video, in dem er zum Widerstand gegen den Migrationspakt aufruft. Politico berichtet, wie die Kampagne ab diesem Moment Fahrt aufnimmt. Eindrücklich ist die Grafik aus einer Studie des Institutes for Strategic Dialogue, die zeigt, dass themenbezogene Tweets ab diesem Zeitpunkt massiv zunehmen und mit dem Ausstieg Österreichs aus dem Migrationspakt Ende Oktober einen vorläufigen Höhepunkt erreichen. In Deutschland nimmt sich die AfD des Themas an. Rechtspopulistischen Medien gelingt es, das Thema so stark zu setzen, dass Jens Spahn gegen den Willen von Kanzlerin Merkel eine Abstimmung auf dem CDU-Parteitag erzwingt.

Wo fand die Diskussion  ̶  oder besser gesagt die Desinformationskampagne  ̶  um den Migrationspakt mehrheitlich statt? An einem digitalen Ort, den viele Menschen noch mit Musikvideos oder der Urheberrechtsdebatte verbinden, der aber längst zu einem Hotspot der Rechtspopulisten avanciert ist: YouTube. Das Institute for Strategic Dialogue hat die Kurzfilme zum Migrationspakt nach Herkunft aufgeschlüsselt und kommt zu dem Schluss, dass 75% der Videos aus rechtspopulistischen beziehungsweise rechtsextremen Quellen oder von Verschwörungstheoretikern stammen. 8% entfallen auf staatliche russische Medien. Nur 9% der Informationen kommen aus etablierten deutschen Medien. Die Wahrscheinlichkeit, dass Bürger*innen, die sich auf YouTube über den Migrationspakt informieren möchten, dort tatsächlich wahrheitsgemäße Informationen erhalten, liegt also unter 10%. Das ist umso gravierender, da YouTube eine wichtige Informationsquelle für Jugendliche darstellt.

Internet-Plattformen und Rechtspopulismus – gesucht und gefunden?

Die Geschichte der Ablehnung des Migrationspaktes ist exemplarisch für die Wirkungsweise rechter Botschaften. Rechtspopulistische Inhalte verbreiten sich in Facebook-Foren, auf YouTube, auf Szenen-Websites und auf Twitter sowie in neuester Zeit über WhatsApp- oder Telegram-Gruppen. Sie erreichen so viele Wähler*innen, dass der Druck spürbar bis in konservative Parteien hineinreicht und auch linke Kreise beeinflusst. Über eine enorme Masse von Beiträgen werden mit größtenteils falschen Nachrichten Stimmungen geschürt und Themen gesetzt, die von dort in die seriösen Medien und in den Mainstream-Diskurs gelangen. Die Kampagnen sind international koordiniert; zahlreiche Organisationen, Parteien und Aktivist*innen ziehen an einem Strang. Alle Kanäle werden gleichzeitig bespielt. Hatespeech gegen Frauen und politische Andersdenkende ist genauso Teil der Strategie wie Beiträge in den Kommentarspalten der etablierten Medien. Rechte Gruppen kennen die Funktionsweise der einzelnen Netzwerke sehr gut und nutzen sie professionell (Schäffer Ute, Fake statt Fakt: Wie Populisten, Bots und Trolle unsere Demokratie angreifen, 31.5.2018).

Diese Funktionsweisen spielen dabei eine wichtige Rolle. „Soziale Netzwerke“ oder „Soziale Medien“ sind vieles, aber eben nicht sozial. Facebook, Google und YouTube sind privatwirtschaftliche Plattformen, die mit Werbung sehr viel Geld verdienen und gleichzeitig Daten abgreifen, die neue Projekte möglich machen. Die Algorithmen, die darüber entscheiden, welche Inhalte den Nutzer*innen am häufigsten gezeigt werden, optimieren nicht die demokratische Meinungsbildung, sondern den Profit der Konzerne. Sie zeigen also diejenigen Inhalte bevorzugt an, die die Nutzer*innen am längsten binden und so die höchsten Werbeeinnahmen generieren. Das sind aktuell leider bei Facebook Posts, die auf Hass und Angst setzen. Der YouTube-Algorithmus spielt unabhängig vom gewählten Ausgangsvideo immer extremere Videos ein und fördert so extremistische Sichtweisen und Verschwörungstheorien. In Deutschland wurde dies am Fall Chemnitz besonders deutlich.

Was können wir tun?

Eins steht fest: Wenn wir unsere Demokratie schützen wollen, dann müssen wir jetzt handeln. Ohne eine auf Fakten und Pluralismus basierende Medienlandschaft – online und offline – wird unsere liberale Demokratie nicht überleben. Dabei möchte ich klar sagen: Reine Verbote sind nicht zielführend. Eine Zensur des Internets in Form von Uploadfiltern oder großen Löschabteilungen, bei denen die Rechtsdurchsetzung an private Großkonzerne ausgelagert wird, ist der falsche Weg. Die politische Herausforderung liegt darin, die einzigartigen Potenziale des Internets in Sachen Meinungsfreiheit und globaler Vernetzung zu bewahren und gleichzeitig der seriösen journalistischen Berichterstattung – die Grundlage unserer demokratischen Entscheidungsfindung ist –  weiterhin angemessenen Raum zu geben. Welche Lösungsansätze sind also denkbar?

Medienkompetenz

Die vielbeschworene Medienkompetenz ist unverzichtbar, aber nicht ausreichend. Jugendliche müssen lernen, zwischen seriösen und unseriösen Quellen zu unterscheiden und Inhalte politisch einordnen zu können. Allerdings ist es damit nicht getan. Die Plattformen kennen die menschliche Psychologie sehr genau und wissen gut, wie sie unsere rationalen Kontrollmechanismen aushebeln können. Und wie motiviert man erwachsene Menschen, sich Medienkompetenz anzueignen?

Eigenproduktion von Inhalten

Es muss unterschieden werden, ob die Funktionsweise der Plattformen selbst das Problem ist oder vielmehr die professionellere Nutzung durch politische Gegner. Für YouTube gilt beides. Die schiere Masse rechtspopulistischer Beiträge führt zu einer Unwucht, der nur beizukommen ist, wenn auch progressive Akteure sich mindestens im gleichen Maße dort engagieren. Als Partei sollten wir Mitglieder und Kreisverbände beispielsweise ermutigen und befähigen, gutes Videomaterial zu erstellen.

Breite zivilgesellschaftliche Front

Alle zivilgesellschaftlichen und politischen Akteur*innen müssen für dieses Thema sensibilisiert werden – von Gewerkschaften über Gemeinden bis zu Bürgerinitiativen. Wenn mehr Geschichten über gelungene Flüchtlingsintegration als rassistische Videos im Netz stünden, sähen die Umfragewerte der AfD sicherlich anders aus. Es geht nicht darum, parteipolitische Ziele zu bewerben, sondern darum, die Grundwerte einer offenen und demokratischen Gesellschaft im Netz zu behaupten. Wir brauchen eine breite Front aller progressiven Akteure.

Interkonnektivität

Nutzer*innen müssen die Möglichkeit haben, frei zwischen Plattformen zu wechseln und dabei ihre Daten unkompliziert mitzunehmen. Heute bilden beispielweise Facebook oder Instagram geschlossenen Universen, zu denen es keine Alternativen gibt, in denen man die eigenen Freund*innen oder Follower wiederfindet. Man stelle sich vor, man könne mit einer Telefonnummer der Telekom nur andere Telekom-Kunden anrufen! Was in der Telekommunikation schon lange eine Selbstverständlichkeit ist, muss auch für Internetplattformen und Messenger-Dienste zur Regel werden. Damit werden Faktoren wie Datenschutz, Netiquette beziehungsweise Content-Moderation, die Hatespeech vermeidet und für einen angenehmen Umgangston sorgt, zu relevanten Faktoren für die Bindung der Nutzer*innen. Wettbewerbsregeln, die im europäischen Binnenmarkt für jede Branche gelten, dürfen auch vor digitalen  Angeboten nicht Halt machen.

Europäische Algorithmenaufsicht

Wenn der Algorithmus ­– wie bei YouTube ­ – extremistische Beiträge systematisch nach oben spült und Fake News höher rankt als Medien, die journalistische Standards einhalten, dann muss über Regulierung nachgedacht werden. Dabei geht es nicht um Zensur, also die Löschung einzelner, nicht strafrechtlich relevanter Beiträge, sondern um die Schwerpunktsetzung. Wenn viele Beiträge um Aufmerksamkeit buhlen, ist eine Gatekeeper-Funktion zur Auswahl der priorisierten Inhalte unumgänglich. Diese übernehmen auf neuen Plattformen die für Gewinnzwecke optimierten Algorithmen. Kann eine Demokratie zulassen, dass ihre eigenen Grundwerte auf wichtigen Kommunikationsplattformen systematisch unterminiert werden, um Konzerne zu bereichern? Wo ist der Mittelweg zwischen verlegerischer Haftung auf der einen Seite und Ausdrucksfreiheit für jede und jeden auf der anderen? Diese dringenden Fragen können nur durch eine umfassende gesellschaftliche Debatte geklärt werden. Diese Debatte muss in Europa stattfinden, denn nur Europa ist groß genug, um amerikanischen Plattformen durch wirksame Regulierung Grenzen zu setzen.

Gemeinnützige soziale Netzwerke in Europa

Ein weiterer Ansatz sind alternative, wirklich soziale, also gemeinnützige Netzwerke. Wie können realistische, für Nutzer*innen attraktive Modelle ohne Datensammelwut aussehen? Sind dafür europäische Wettbewerbsmaßnahmen zur Eindämmung der amerikanischen Monopole erforderlich? Welche Anreize kann die EU bieten, um europäische Alternativen zu etablieren?

Packen wir es an

Eine einfache Lösung wird es nicht geben. Aber es ist an der Zeit, dass wir diese Debatte in Europa ohne Scheuklappen führen. In der Partei, aber besonders in der Zivilgesellschaft – gemeinsam mit Kirchen und Gewerkschaften, mit Umweltverbänden und Flüchtlingsinitiativen, mit Netzaktivist*innen und Künstler*innen. Es gibt Alternativen zu Tatenlosigkeit auf der einen und Zensur auf der anderen Seite: einen demokratischen Aufbruch im Netz. Darüber sollten wir sprechen. Jetzt.

Autor: Alexandra Geese

Alexandra Geese kandidiert auf dem aussichtsreichen Listenplatz 17 auf der Europaliste von Bündnis 90/Die Grünen. Ihre politischen Themen sind Digitalisierung, Frauen und Migration. Sie arbeitet als Dolmetscherin im Europäischen Parlament.

Ein Kommentar

  1. Als Erstes könnten wir Grünen mal daran Arbeiten, dass unsere Partei in ihrer Außenkommunikation nicht gerade auf Facebook, Twitter, Instagram, Google+ und Whatsapp setzt und damit die Datenkrakenkonzerne auch noch fördert. An dieser Stelle fehlt momentan jedes politische Verantwortungsbewusstsein.