Ein neues nukleares Wettrüsten in Europa
„We are on the eve of destruction“, so sang Barry McGuire 1965: “if the button is pushed, there is no running away”.
Europa steht vor einem neuen nuklearen Wettrüsten. Donald Trump hat den Vertrag über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen, in INF-Vertrag, gekündigt. Nach dem Pariser Klimaabkommen, dem Iran-Abkommen und der UNESCO wurde so das nächste internationale Abkommen von den USA in die Tonne getreten.
Doch der INF- Vertrag zwischen den USA und Russland ist nicht irgendein Abkommen. 1987 wurde er als unbefristeter Vertrag von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnet. Real und symbolisch stand er für das Ende des atomaren Wettrüstens.
Welcome to the 80´s
Mit Inkrafttreten des Vertrages 1988 begann eine beispiellose Abrüstungswelle nuklearer (landgestützter) Mittelstreckenraketen, knapp 2700 Raketen wurden bis 2001 vernichtet. Der kalte Krieg war zu Ende – und mit ihm die Auseinandersetzung um die von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) propagierte Nachrüstung.
Der Kalte Krieg ist zurück. Ganz in Schmidt-Tradition haben die SPD Minister Scholz und Maas gerade der NATO eilfertig gemeldet, über 2024 hinaus die Rüstungsausgaben in Deutschland weiter zu steigern – wohl bis zu den von Trumpgeforderten 2 %.
CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak verstieg sich zu der Aussage, dass wer jetzt über Abrüstung rede, nur den Russen, also Putin in die Hände spiele. Man kann offensichtlich auch im Stil der 80er argumentieren, wenn man erst 1985 geboren wurde.
Während die NATO Russland vorwirft, seine neuen Marschflugkörper würden weiter als die erlaubten 500 km fliegen, betrachtet Russland die US-Raketenabwehr in Osteuropa als Verstoß gegen den INF-Vertrag.
Wie substantiiert die gegenseitigen Vorwürfe sind, ist zweitrangig. Die Beharrlichkeit mit der sie vorgetragen werden, zeigt aber wie wenig Interesse sowohl die USA wie Russland haben, in den verbleibenden sechs Monaten bis zum endgültigen Aus für den INF-Vertrag tatsächlich den Vertrag zu retten. Putin sprang im TV-Gespräch die klammheimlich Freunde geradezu aus dem Gesicht. Trump hat mit der Kündigung eines ungeliebten Vertrages freiwillig den Schwarzen Peter genommen.
Tatsächlich investierten die atomwaffenbesitzenden Staaten in den letzten Jahren viel Geld, um ihre nuklearen Potentiale zu modernisieren – und dies gilt nicht nur für die USA und Russland. Und im Jahr 2021 läuft der NEW-Start Vertrag aus. Ob es eine Verlängerung gibt, ist Stand heute offen. Fällt der Vertrag, der die Anzahl der nuklearen Sprengköpfe beschränkt, wird die Rüstungsspirale richtig zu rotieren zu beginnen.
Wenn Putin und Trump sich lästiger Schranken entledigen, dann steht die Welt vor einem neuen nuklearen Wettrüsten. Und Europa soll einer der Schauplätze sein.
Europa ohne Antwort
Da verwundert es, wie wenig Deutschland und Europa ihre Interessen gegen diese Bedrohung unsere aller Sicherheit verteidigen. Bundesaußenminister Maas brauchte Monate, bis er endlich erklärte, dass in Deutschland keine neuen Mittelstreckenraketen stationiert werden. Wahrscheinlich kannte er da schon die Bewerbung Polens. Polens Außenminister fordert als Antwort auf den Russland vorgeworfenen Vertragsbruch die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa.
Nachdem die USA unilateral den INF-Vertrag gekündigt hatten, stand Maas neben US-Außenminister Pompeo in Washington und versicherte seine uneingeschränkte Solidarität mit den USA und die Geschlossenheit der NATO. Maas redet zwar von Abrüstung, erklärt aber gleichzeitig im Rahmen der NATO volle Solidarität mit den aufrüstenden Amerikanern.
Da trifft er sich mit jener Allianz konservativer Journalisten und Verleger, mit Thinktanks wie der Atlantik Brücke, die meinen „jede Option müsse auf dem Tisch bleiben“. Nach dieser Logik hätte sich Deutschland auch an der US-Invasion im Irak beteiligen müssen.
Offensichtlich gibt es kein gemeinsames Interesse zwischen den USA, die Russland in einen neuen Rüstungswettlauf drängen wollen, und den Europäern, auf deren Territorium der Krieg ausgetragen wird, wenn der neue Kalte Krieg heiß wird.
Abschrecken?
Dabei müssten doch die Lehren aus den 80ern noch ausreichend lebendig sein: Abschreckung führt zu Aufrüstung – nicht zur mehr Sicherheit.
Die Idee der sogenannten „mutually assuranced destruction“, also die Drohung mit dem gegenseitigen Selbstmord ist schon für sich mad. Dass sie aber zu Frieden und Stabilität führt, ist historisch falsch. Im Kalten Krieg befand sich die Welt ständig am Rande eines Atomkriegs. Es wäre der letzte auf dieser Erde gewesen.
Bekannt ist die Kuba-Krise oder die Fehlfunktion des sowjetischen Überwachungssystems im September 1983, das beinahe zu einem sogenannten Zweitschlag geführt hätte – in Erwartung von Millionen Toten durch einen amerikanischen Erstschlag, den es gar nicht gab.
Wenn heute behauptet wird, dass die damalige Drohung mit der Nachrüstung doch zu Abkommen wie dem INF-Vertrag geführt habe, vergisst die Besonderheiten der damaligen Zeit. Mit Michail Gorbatschow zog seit 1986 ein Neues Denken in die sowjetische Außenpolitik ein – und ein realistischer Blick auf die eigenen ökonomischen Möglichkeiten. Gorbatschow ist im Westen ein Held – in Russland aber eher verhasst. Putin hingegen hat bisher ökonomische Schwäche eher mit Aggression nach außen beantwortet, siehe Krim und Ost-Ukraine.
Aber es ist keine Frage von Persönlichkeiten. Über das Wettrüsten zerbrach die Sowjetunion. Dass ein solcher Staatszerfall sich immer in Form einer Implosion vollzieht, ist kein Naturgesetz. Damals gelang es die Kontrolle über alle Atomwaffen bei einem der Rechtsnachvoller zu konzentrieren – trotz des Staatsbankrotts Russlands unter Jelzin.
Wer glaubt, dies wiederhole sich einfach, spielt mit der Sicherheit Europas. Dies gilt umso mehr, als wir heute keine bipolare Welt mehr haben. Auch dies zeigt das Ende des INF-Vertrages. Beide Vertragspartner verweisen darauf, dass durch ihn weder China noch Indien oder Pakistan gebunden werden.
Frankreich und Großbritannien sind etablierte Atommächte. Israel ist de facto eine. Andere wie der Iran, Saudi-Arabien oder Ägypten strebten oder streben danach. Gerade versucht Trump ein wichtiges Nichtverbreitungsabkommen – das mit dem Iran – zu zertrümmern. Es wäre der Auftakt für ein nukleares Wettrüsten im Pulverfass des Nahen Ostens.
In einer Welt multipolarer, häufig autokratischer Atommächten, läuft die Drohung mit dem gegenseitigen Selbstmord leer.
Abrüsten!
Sicherheit wird nur zu gewährleisten sein in einer Welt frei von Atomwaffen. Deshalb ist der Atomwaffenverbotsvertrag so wichtig. Es ist fahrlässig von der Bundesregierung diesen Vertrag weiterhin zu bekämpfen, anstatt ihm beizutreten.
Aber er bietet noch keine Antwort auf das drohende nukleare Wettrüsten in Europa. Die kann nur Abrüstung lauten. Es ist Zeit für eine europäische Abrüstungsinitiative.
Sie muss an einer Tatsache anknüpfen. Atomwaffen sind nicht nur bedrohlich. Atomwaffen sind auch Ziele. Auch in Deutschland. Im Rahmen der nuklearen Teilhabe lagern hier, in Belgien, Italien den Niederlanden und der Türkei 160 bis 200 amerikanischen Atombomben vom Typ B61 – sogenannte taktische Atomaffen, jede dreimal so stark wie die Hiroshima-Bombe.
Die NATO sollte anbieten, diese taktischen Atomwaffen aus Europa abzuziehen und außerdem auf die US-Raketenabwehr National Missile Defense (NMD) zu verzichten – wenn Russland ebenfalls zu Abrüstungsschritten bei Iskander-Raketen und Marschflugkörpern bereit ist.
Es wäre ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Europa mindert seine nukleare Bedrohung. Russland seine ökonomische. Russland steht zwar nicht so schlecht da, wie die Sowjetunion in den 80er Jahren, aber eine massive Investition in neue Nuklearwaffen wäre für Putin ein innenpolitisches Risiko. Gerade erst sind seine Beliebtheitswerte auf den niedrigsten Stand seit langem gesunken, weil er eine Debatte um eine allgemeine Rentenerhöhung massiv unterschätzt hatte.
Aufrüstung für Abschreckung ist teuer. Sicherheitspolitisch hat sie nichts zu bieten außer einer romantischen Hoffnung: Es ist noch immer gut gegangen.
Eine Politik der gegenseitigen Abrüstung knüpft an elementaren Interessen an. Sie ist harte Realpolitik. Eine solche Politik ist in Europa überfällig.