Wer hätte gedacht, dass es einer (damals) Fünfzehnjährigen gelingt, mit einer eher stillen und absolut gewaltfreien Aktion weltweit Nachahmerinnen und Nachahmer zu finden und das Thema Klimakrise endlich in die Schlagzeilen zu bringen? Und warum haben wir das nicht geschafft? Ein Teil der Antwort liegt sicherlich im „Kaisers-neue-Kleider“ Effekt – die Kinder und Jugendlichen sprechen die Wahrheit klar aus: dreißig Jahre nach der Konferenz von Rio, drei Jahre nach dem Pariser Klimaabkommen steigen die CO2-Emissionen nahezu ungebremst weiter, wir steuern (mindestens) auf eine Drei-Grad-Welt zu. Das Überschreiten von Kipp-Punkten ist dann eher wahrscheinlich, sodass es auch gut fünf oder sechs Grad werden können, mit dramatischen Auswirkungen für nahezu sämtliche Ökosysteme auf dem Planeten. Ein anderer Teil der Antwort ist, dass es vergleichsweise einfach ist, dem politischen Mitbewerber Eigeninteresse vorzuwerfen – junge Menschen, die verzweifelt für ihre Lebensgrundlagen auf die Straße gehen, kann man nicht so leicht diskreditieren.
Fridays for Future haben radikale Forderungen aufgestellt: in Deutschland Netto-Null Treibhausgasemissionen ab 2035, Kohleausstieg bis 2030 und 100% erneuerbare Energien (Strom, Wärme, Mobilität, Industrie) bis 2035. Bereits 2019: ein Viertel der Kohlekraftwerke abschalten, Streichung aller Subventionen für fossile Energieträger. Und ein CO2-Preis, der rasch auf die vom UBA berechneten 180 €/Tonne steigt. Außerdem fordern sie, dass Staaten, Länder und Kommunen die Klimakrise endlich als solche adressieren, den Notstand ausrufen und das Problem prioritär angehen. Dieser Forderung sind einige Parlamente auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene gefolgt und haben „climate emergency“ (England, Schottland, Wales, Irland; viele Kommunen in Großbritannien und Australien) bzw. den „Klimanotstand“ (Konstanz, Zürich, Basel) ausgerufen und verpflichten sich, für ihre Kommunen bzw. Länder Klimaneutralität anzustreben. Auch einige grüne Ratsfraktionen haben entsprechende Anträge eingebracht oder in Vorbereitung.
Dennoch scheuen sich viele, sich die Forderungen von Fridays for Future zu eigen zu machen. Insbesondere schrecken wir mit gutem Grund vor dem Begriff „Notstand“ zurück: in der Vergangenheit wurden Notstandsgesetze dafür missbraucht, politisch Andersdenkende zu kriminalisieren, demokratische Regeln außer Kraft zu setzen und autoritäre Regime zu legitimieren. Die unselige Geschichte reicht von den Notverordnungen der Weimarer Republik über die Notstandsgesetze der Bundesrepublik Deutschland von 1968 und die Einschränkungen der Bürgerrechte im Patriot Act der USA 2001 bis zu den Notstandsgesetzen in Frankreich nach den Terrorakten von 2015. Immer hatte die Ausrufung des Notstands eine Einschränkung bürgerlicher Rechte, insbesondere des Schutzes der Privatsphäre, und einen Abbau der Gewaltenteilung zum Inhalt. Deshalb ist es richtig, beim Begriff „Notstand“ einen Angriff auf die Demokratie zu wittern.
Wer sich allerdings mit dem aktuellen Stand der ökologischen Krisen befasst, kommt an dem Wort kaum vorbei. Das englische „emergency“ trifft unsere Lage besser; einen adäquaten deutschen Begriff gibt es nicht. Prof. Schellnhuber, an dessen eindrücklichen Auftritt auf der BDK im November 2017 in Berlin sich vielleicht manche noch erinnern, spricht treffend von einem „Meteoriteneinschlag in Zeitlupe“: die Umwälzungen der Biosphäre werden so umfassend sein, dass wir uns ihre Auswirkungen kaum vorstellen können. Und weil sie nicht binnen Tagen oder Monaten eintreffen, sondern sich über Jahre und Jahrzehnte entwickeln, sind wir Menschen – schon aufgrund unserer genetischen Ausstattung, die sich über Jahrhunderttausende in einer ganz anderen ökologischen Nische entwickelt hat – nicht in der Lage, sie intuitiv oder intellektuell zu erfassen, geschweige denn, adäquat zu handeln.
Was zu tun wäre, können wir nur in Ansätzen beschreiben. Richtigerweise haben die Scientists for Future in ihrer Pressekonferenz darauf hingewiesen, dass auch die Forderungen von uns Grünen nicht ausreichen, um die Klimakrise wirksam anzugehen. Denn der Bericht des Weltklimarats IPCC vom Oktober 2018 macht klar, dass die bislang formulierten Ziele nicht ausreichen. Unsere BDK-Beschlüsse zu 100 % Erneuerbare (in allen Bereichen) und Treibhausgasneutralität 2050 spiegeln weder den Stand der Wissenschaft, noch unsere historische Verantwortung wider. Was das Artensterben angeht, sieht es kaum besser aus: selbst wenn alle unsere Anträge angenommen und umgesetzt würden, würde der Natur“verbrauch“ zwar verlangsamt, aber nicht gestoppt. Eine Trendwende wäre also auch das nicht. Allerdings wäre es auch illusorisch, anzunehmen, dass man mal eben so einen Plan für die Weltrettung entwerfen kann.
„Radikal ist das neue Realistisch“ – halten wir uns daran? Klar, wir können mit dem Kampf gegen die Klimakrise und das Artensterben, den Stickstoffüberschuss, die Entwaldung und die Flächenversiegelung nicht warten, bis das wachstumsfixierte Wirtschaftssystem überwunden ist. Aber trauen wir uns, auszusprechen, dass grüne Ideen nicht zwangsläufig schwarze Zahlen bedeuten? Sind wir bereit, Wähler*innen und damit potentiellen Einfluss zu verlieren, wenn unsere Konzepte bedeuten, dass Profit und Arbeitsplätze von heute der Überlebenswahrscheinlichkeit von morgen weichen müssen? Mein Eindruck ist, dass wir das nicht tun. Damit wir auf der Fahrt in Richtung Abgrund wenigstens ab und zu an der Bremse ziehen können, indem wir bei Regierungsbeteiligungen grüne Inhalte umsetzen.
Eines können und müssen wir allerdings tun: Die Wahrheit sagen. „Tell the Truth“ ist die erste Forderung von „Extinction Rebellion“ (der Name ist nicht leichtfertig gewählt), einer internationalen Bewegung, die mit gewaltfreien Aktionen zivilen Ungehorsams einen radikalen Wandel herbeiführen will, um den Erhalt unserer Zivilisation langfristig zu gewährleisten. Die Forderung nach der Wahrheit wird unterstützt durch Stimmen aus der Wissenschaft, wie der führenden Meeresbiologin Antje Boetius oder dem Klimawissenschaftler Stefan Rahmstorf.
Unsere Partei hält sich hier vorsichtig zurück. Niemand möchte die schönen Umfragewerte gefährden, die Anschlussfähigkeit in Frage stellen, sich dem Vorwurf der Angstmacher- und Verbotspartei aussetzen. Das ist verständlich, aber der Dramatik der Situation, in der wir uns befinden, nicht angemessen. Wenn wir so tun, als wäre das Umsteuern nur eine Option unter mehreren, wenn wir uns einreihen in den Kanon derer, die angesichts der Herausforderungen der Klimakrise plötzlich ihr Herz für Geringverdiener*innen entdecken und vor deren übermäßiger Belastung warnen, wenn uns das Drehen an kleinen Stellschrauben wichtiger ist als das Aussprechen der Wahrheit – dann verraten wir nicht nur unsere Werte der globalen und der Generationengerechtigkeit, wir machen uns auch unglaubwürdig. Denn in der Einschätzung und Bekämpfung der ökologischen Krisen muss die Wissenschaft der Maßstab sein. Und die Wissenschaft ist sich einig wie selten zuvor: wenn es uns nicht in den nächsten zehn Jahren gelingt, umzusteuern und uns von der „Linearwirtschaft“ mit gigantischem Ressourcenverbrauch und irreversibler Zerstörung von Ökosystemen abzuwenden, hin zu einer Kreislaufwirtschaft, die die Überlebensgrundlagen auf unserem Planeten erhält, droht das Ende der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen. Nota bene: ich glaube nicht, dass Homo sapiens tatsächlich in naher Zukunft vom Aussterben bedroht ist. Überleben werden aber, wenn die globalisierte, hoch spezialisierte und eng vernetzte Wirtschaft zusammenbricht, nur ein Bruchteil der heute lebenden Menschen. Dieses Szenario kann rascher eintreten, als wir alle glauben. Und dann? Selbst wenn ausreichend fruchtbarer Boden vorhanden und das Klima hinreichend überlebensfreundlich wäre: Wer von uns könnte noch Lebensmittel anbauen und haltbar machen? Stoffe weben? Werkzeug herstellen? Die beruflichen Qualifikationen von Betriebswirt*innen, Soziolog*innen oder Mechatroniker*innen sind weitgehend nutzlos, wenn es ums schlichte Überleben geht. Auch die Fertigkeiten von Tischler*innen, Dachdecker*innen oder Sanitärinstallateur*innen sind heute untrennbar mit den Produkten und Methoden der modernen Industriegesellschaft verbunden.
Greta Thunberg hat immer wieder den Begriff „Panik“ verwendet. Ich glaube nicht, dass sie damit „Kopflosigkeit“ meint oder unbedachten Aktionismus fordert, wie es ihr immer wieder unterstellt wird. Ich glaube, dass sie einfach zu radikalem Handeln auffordern will. Und auch wenn man sich aus vielerlei Gründen weder den Begriff Notstand noch den Begriff Panik zu eigen machen möchte: lasst uns wenigstens die Wahrheit sagen.
12. Juni 2019 um 11:18
Liebe Jutta Paulus,
ich war Redakteur der grünennahen Zeitschrift „Kommune“ in Frankfurt. Ich mache auf Facebook eine Art politischen Blog. Darf ich deinen Artikel dorthin verlinken?
Beste Grüße aus Marburg
Balduin Winter
12. Juni 2019 um 15:48
Vielen Dank. Das Aussprechen der Wahrheit kostet viel Mut, die quasi religiöse Verehrung des Wachstumskonzeptes zuu durchbrechen wird nicht leicht sein!
12. Juni 2019 um 23:04
Ja, liebe Jutta, stimmt alles. Leider verschließt die Mehrheit die Augen und Ohren vor der Wahrheit, wenn sie „nackt“ daher kommt. Die Veränderungen müssen mit positiven Erfahrungen und Erfolgen verbunden werden. Erfolge beim Ökolandbau, Aquakulturen in Kreislaufwirtschaft, Entwicklung der Transition Towns, sensationelle Erfolge bei der Bekämpfung von Schädlingen durch Nützlinge, – es gibt eine Fülle von wunderbaren Erkenntnissen, die viel zu wenig kommuniziert werden. Dazu die positiven Ansätze, wie die Macht der Konzerne beschränkt werden kann (erst kommt der Profit, dann die Moral). Näheres bei Interesse. Denn sie sind die Treiber der fatalen Entwicklung.
22. Juni 2019 um 8:02
Liebe Jutta, ich kann dir zustimmen. Wir als Grüne werden in den kommenden 12-15 Monaten mE nicht darum herum kommen, klar zu sagen, wie wir die Forderungen der allermeisten Wissenschaftler*innen, der FFF-Bewegung, der vielen anderen NGOs und Zivilgeselslchaft umsetzen wollen – und wenn es effektiv sein soll, werden wir unbequeme Positionen und Ziele formulieren, die eine Änderung des Wirtschaftssystem beinhalten werden. Radikaler werden – ja, und auch deutlich die positiven Effekte eines anderen Konsum- und Produktionsmodells betonen: mehr Zeit, weniger BurnOut, hoffentlich auch weniger ökologische Vulnerabilität. Environmental Justice forden und umsetzen hieße ökologischen und sozialen Umbau vorantreiben und Gerechtigkeit auf allen Ebenen umsetzen. Viel Erfolg!