Politik an der Autonomie des Menschen ausgerichtet, das ist Aufklärung, das sind Menschenrechte, das ist Freiheit. Richtig und wichtig ist es daher, dass der Freiheit im Entwurf des Wahlprogramms eine herausragende Stellung eingeräumt wird. Und es wird auch deutlich, was wir Grünen unter Freiheit verstehen: Nicht die Freiheit von Börsenspekulanten und Hedge-Fonds-Managern, nach dem maximalen Profit zu streben und damit die Freiheit der anderen und die demokratischen Entscheidungsprozesse zu gefährden. Sondern die Freiheit der Einzelnen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig halten, solange dies keine unverhältnismäßigen Beschränkungen der Rechte anderer mit sich bringt. So weit, so klassisch. Wir setzen auf Selbstbestimmung, den Schutz vor Diskriminierung und die Einhegung staatlicher Gewalt. Wir stärken die Demokratie.
Bei näherer Betrachtung wirft das Kapitel, das die Freiheit in der Überschrift trägt, jedoch einige Fragen auf. Wird der Inhalt der Überschrift gerecht? Werden die richtigen Schwerpunkte und Akzente gesetzt, die richtigen Begriffe gewählt?
Was gut ist: Wir zeigen klare Kante gegen Menschenfeindlichkeit, und zwar unabhängig davon, ob sie islamistisch oder rechtsextrem begründet wird oder „nur“ durch rechtspopulistische Rhetorik in die Mitte der Gesellschaft getragen und von der Regierungsmehrheit kolportiert wird. Wir treten Menschenfeindlichkeit entgegen, egal ob wir sie in Politik und Gesetzgebung feststellen oder im Handeln der Behörden. Und wir beschränken uns nicht auf die Kritik staatlichen Handelns, wo es die Große Koalition in die Irre treibt: Wir setzen uns mit Hass im Netz und auf der Straße auseinander und machen konkrete Vorschläge: gute Polizeiarbeit, Neuanfang beim Verfassungsschutz, effektive Strafverfolgung. An Kernforderungen – gegen die Bundeswehr im Innern, gegen die Vorratsdatenspeicherung – halten wir fest. Unser Programm steht auf soliden Füßen: auf den Werten des Grundgesetzes, Werten die für alle gelten, für Jüdinnen, Sinti und Roma, für Trans* und Intersexuelle.
Der Rechtsstaat hingegen, der immer wieder bemüht wird, bleibt konturenlos und beliebig und klingt nach konservativer Phrasendrescherei. Rechtsstaatlichkeit bedeutet, daß die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage der Verfassung und von formell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist, so der Staatswissenschaftler Klaus Stern. Der Rechtsstaat schützt den Einzelnen vor staatlicher Willkür. Er verpflichtet die staatlichen Behörden, nicht den Einzelnen. Wenn er angegriffen wird, dann durch einen Gesetzgeber, der das faire Verfahren beeinträchtigen und den Rechtsweg beschränken will, nicht durch Terrorist*innen, Rassist*innen und Faschist*innen. Um vom Einzelnen den Respekt der Gesetze einzufordern, braucht man den Rechtsstaat nicht – auch in der Diktatur wird vom Einzelnen der Respekt der Gesetze eingefordert. Wer den Rechtsstaat beliebig bemüht, wie so mancher Konservativer in der Flüchtlingsdebatte, lässt ihn zur leeren Floskel verkommen und entwertet das Konzept. Dieses Spiel sollten wir Grünen nicht mitspielen.
Begriffliche Unschärfen gibt es auch an anderer Stelle. Warum wird Toleranz gefordert, wenn man doch eigentlich Respekt und Akzeptanz meint oder meinen sollte? Warum ist die Rede von Humanität, wenn es um individuelle, einklagbare Rechte geht oder gehen sollte? Humanität ist ein schönes Wort. Politisch steht es aber für eine Großzügigkeit, die aus Gnade von oben herab gewährt wird, eine Merkelsche Politik der Mildtätigkeit. Progressiv ist die andere Perspektive, die wir Grünen uns immer zu eigen gemacht haben und uns weiter zu eigen machen sollten: die Perspektive der Unterdrückten, der Marginalisierten, des einzelnen Menschen, der nicht Mildtätigkeit erwartet, sondern die Gewährleistung seiner Rechte, des Rechts auf Asyl, des Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das Recht auf Gleichbehandlung. Hier wünsche ich mir weniger Wohlfühlrhetorik und mehr Kampfgeist, der im Programm zwar immer wieder beschwört wird, aber doch zu wenig mit Inhalt gefüllt wird.
In den letzten Jahren haben Regierungsbeteiligungen in den Ländern nicht nur zur Schärfung unseres bürgerrechtlichen Profils beigetragen. Wenn die Koalition rechtsstaatlich fragwürdige Konzepte durch das Parlament peitscht – Vorratsdatenspeicherung, sichere Herkunftsstaaten, Gefährderbegriff – reicht es nicht aus, wenn die Bundestagsfraktion nein sagt. Als Bürgerrechtspartei müssen wir insgesamt ein rechtsstaatliches Korrektiv sein. Dafür müssen wir kämpfen. Wer kämpft, kann verlieren, doch wer nicht kämpft, hat schon verloren. Wir sollten uns wieder trauen, dem Mainstreamdenken, wo es nötig ist, klar und deutlich zu widersprechen. Das heißt nicht, dass jeder Vorschlag der Konservativen von vorherein nicht verhandelbar ist. Verhandlungsergebnisse kann und muss man aber als solche darstellen, als demokratisch notwendige Kompromisse, nicht als eigenen Erfolg auf ganzer Linie.
Was ist eigentlich Freiheit für uns Grüne? Am besten kommt das noch im Kapitel zur Gleichberechtigung zum Ausdruck. An anderer Stelle besteht noch Nachbesserungsbedarf. Was haben Videoüberwachung und eine starke Polizei mit Freiheit zu tun? Da muss man schon ein wenig nachdenken. Schön wäre es gewesen, sich nicht nur für eine starke Polizei auszusprechen, sondern auch den Schutz vor Polizeigewalt und rassistische Diskriminierung zu thematisieren. Die Beschränkung von Freiheitsrechten und die Aushöhlung rechtsstaatlicher Verfahren schaffen keine Sicherheit. Das darf man aussprechen, man muss es sogar. Wenn wir es nicht tun, dann tut es niemand. Das hat zwar einen Preis, man kann nicht everybody’s darling sein. Doch wenn wir es nicht einmal versuchen, führt dies letztendlich nur zu Beliebigkeit und Austauschbarkeit. Das braucht es wahrlich nicht: Deutschland braucht vielmehr eine Kraft, die dem sicherheitspolitischen Populismus von Union und SPD etwas entgegensetzt, eine bürgerrechtliche Kraft, die Ja zu Sicherheit sagt, Sicherheitspolitik aber rechtsstaatlich macht. Das heißt: Sicherheitsmaßnahmen sollte man nur vorschlagen, wenn sie auch mehr Sicherheit versprechen. Und geeignete Sicherheitsmaßnahmen sollen grundrechtsfreundlich und verhältnismäßig ausgestaltet werden. Darum lasst uns streiten: Ja zum Konflikt, ja zum Widerspruch, den lässt es sich nicht wegframen. Dafür braucht es Mut. Den Mut können wir im weiteren Programmprozess aufbringen. Dann können wir uns als Partei des Rechtsstaatsliberalismus bei den Wähler*innen bewerben.