Was für ein bitteres Wahlergebnis: Die rechtsextreme AfD mit fast 13 Prozent drittstärkste Kraft, die SPD am Boden zerstört und wir Grüne mit 8,9 % letzte Kraft. Auch die Union droht im Chaos zu versinken und mit der FDP ist das alte neoliberale Gespenst mit aller Macht zurückgekehrt. Eine handlungsfähige Regierung zeichnet sich nicht ab. Das Ergebnis der Bundestagswahl ist ein Desaster. Bitter ist das nicht nur für uns Grüne, sondern für alle progressiven Kräfte, die sich mit gesellschaftlichem Stillstand und dem dramatischen Rechtsruck in Deutschland nicht abfinden wollen.
Die Lehre aus diesem Wahldebakel muss lauten: Ein „Weiter so“ darf es jetzt nicht geben! Bereits jetzt ist bei genauerer Betrachtung klar: Wir Grüne konnten unsere Wahlziele nicht erreichen, aller Erleichterung zum Trotz ein nicht noch schlechteres Ergebnis eingefahren zu haben. Wir sind weder dritte Kraft noch zweistellig geworden, eine Mehrheit für einen zukunftsfähigen Politikwechsel ist nicht in Sicht. Wie konnte es dazu kommen?
Auto, Auto, Auto
Globale Unwetterkatastrophen, die Kündigung des Klimaabkommens durch die USA, der Dieselskandal: Das schrie nach knallgrünen Antworten! Doch statt diese laut und deutlich zu geben, schrieben wir Grüne uns lieber die Rettung der deutschen Autoindustrie auf die Fahnen. Ständiges Gerede über Autos, unzählige Bilder vor und in Autos: Ein Ziel dieses Wahlkampfes war es offensichtlich, zu zeigen, dass wir Grüne ganz vernarrt in Autos sind.
Es wäre Aufgabe des Grünen Spitzenteams gewesen, einen offensichtlich überforderten Verkehrsminister frontal anzugreifen und klare Alternativen für moderne Mobilität anzubieten – und auch mal über etwas anderes zu reden als Autos. Stattdessen hat das Spitzenteam mit dem motorisierten Individualverkehr Mobilitätskonzepte des 20. Jahrhunderts als Lösung für das kriminelle Verhalten der Autoindustrie präsentiert – ein doppelter strategischer Fehler, der uns massiv geschadet hat: Die grüne Kernwählerschaft war irritiert und eingefleischte Autoliebhaber*innen würden die Grünen nicht mal dann wählen, wenn sich unser versammeltes Spitzenpersonal für den Wahlkampf SUVs anschaffen würde.
Weichgespült und angepasst
Wo wurde die konsequente Menschenrechtspolitik für Geflüchtete sichtbar? Wo wurde die entschiedene Friedenspolitik eingefordert? Warum wurden unsere progressiven Forderungen in der Sozialpolitik wie die Abschaffung der Hartz IV-Sanktionen nicht lautstark gesetzt? Verschämt genannt wurde es teilweise – wirklich gemeint wurde es nicht! Weichgespült und angepasst wie noch nie sind wir Grünen in den Wahlkampf gegangen. Doch gerade in unseren Hochburgen außerhalb Süddeutschlands brauchen wir klare Kante! Der doppelte Fehler also auch hier: Kaum gewonnen bei den Merkel-Jüngern, viel verloren bei Grünen Stammwähler*innen. Allein 170.000 Wähler*innen haben wir an die Linke verloren und 110.000 an die FDP! Die Gewinne von gerade mal 40.000 Stimmen von der CDU sind hingegen zu vernachlässigen.
Schwarz-Grün? – Eigenständigkeit geht anders
Versprochen wurde uns Grünen und den Wähler*innen ein eigenständiger grüner Inhaltswahlkampf. Vom ersten Wahlkampftag an wurde dieses Versprechen gebrochen. Eine schwere Hypothek war die einseitige Fokussierung auf die Union als grüner Wunschpartner. Aufeinandertreffen von Grünen und CDUler*innen wirkten allzu oft wie vorgezogene Sondierungen. Von Angriff nur selten eine Spur. Wir wirkten eher wie ein schlechtes Abziehbild der CDU als ein progressives Gegengewicht zum GroKo-Stillstand. Selbst erfahrenen Wahlkämpfer*innen fiel es deshalb schwer, zu erklären, dass man die Grünen wählen soll, damit sich ordentlich was dreht in Deutschland.
Das „Sahnehäubchen“ auf diesem fatalen Eindruck der übermäßigen Nähe zur CDU bildete ein CDU- Wahlkampfmotiv, das um den Zusatz „Klimaschutz“ ergänzt und in den sozialen Medien der Grünen Bundespartei verbreitet wurde.
Die Grünen müssen nach der Beteiligung an vielen Landesregierungen und früheren Bundesregierungen niemandem Regierungs- oder Kompromissfähigkeit beweisen. Die Sorge vor dem Vorwurf „kompromiss- und regierungsunfähig“ zu sein, war mit jedem Auftritt zu spüren und wirkte im Ergebnis völlig aus der Zeit gefallen.
Kernwählerschaft? Ohne geht es nicht
Dass man mit einem konservativ-konzernfreundlichen Kurs in ländlich geprägten Bundesländern mit grünem Ministerpräsidenten bei einer Bundestagswahl zulegen kann, mag sein. Gleichzeitig verlieren wir damit aber unsere Kernwählerschaft im Rest der Republik. Das zeigt erneut eindringlich das doppelte Dilemma der Wahlkampfstrategie: Ein weichgespülter Grünen-Kurs verfängt bei Konservativen kaum – und hält unsere Kernwähler*innen davon ab, Grün zu wählen. Letzteres ist nicht verwunderlich, wenn wir Grüne Kernthemen wie Menschen- und Bürger*innenrechten, soziale Gerechtigkeit, Queerfeminismus und die offene Gesellschaft im Wahlkampf aussparen.
Konsequenzen ziehen – Neuanfang wagen
Angesichts dieser desolaten Lage kann ein „Weiter so!“ keine Option sein. Erster Schritt muss ein inhaltlicher Neuanfang auf Bundesebene sein. Ein Spitzenduo, das für diesen Wahlkampf hauptverantwortlich ist, muss eine Kurskorrektur hin zu Grünen Kernanliegen hinbekommen. Wenn ihnen das nicht gelingt oder dazu keine Bereitschaft besteht, müssen entsprechende Konsequenzen gezogen werden.
Über den Eintritt in eine schwierige Koalition hätten wir Grünen aus einer Position der Stärke diskutieren können. Doch mit unserem schwachen Wahlergebnis und als kleinste Fraktion eine Koalition einzugehen, die offenbar massiv demobilisierend gewirkt hat, kann für uns Grüne das Ende bedeuten.
Den gesellschaftlichen Rechtsruck stoppen wir nicht in einem Bündnis mit einer ultranervösen CSU, die am Boden liegt und ihr Heil in einem noch härteren Rechtskurs sucht und einer neoliberalen FDP, die angesichts ihres Erfolgs keinen Grund hat, Grüne Ideen mitzutragen. Eine Koalition der Grünen mit drei Parteien, die sich von der AfD treiben lassen, entspricht einem Himmelfahrtskommando und kann kein Bündnis für seriöse Politik zum Wohle des Landes sein.
Wenn wir Grüne die wohl unvermeidlichen Sondierungen überstehen wollen, muss unsere Antwort klare Kante gegen Rechts und neoliberalen Irrsinn sein. Abschiebungen in Krisengebiete, Obergrenzen, eine Verhinderung von Familiennachzug, Dieselpolitik und Steuersenkungen sind mit uns nicht zu machen – auch dann nicht, wenn über alles das Feigenblatt Klimaschutz gelegt wird.
Den Rechtsruck zu verhindern, indem wir eine echte inhaltliche Alternative anbieten, ist Grüne Kernaufgabe! Wer jetzt in unkalkulierbare Koalitionsabenteuer schlittert, riskiert, dass die progressiven Bündnispartner*innen aus der Zivilgesellschaft mit uns ihre letzten Verbündeten im Deutschen Bundestag verlieren.
Wie soll die Grüne Erneuerung in so einer Horrorkoalition stattfinden? Die nächsten vier Jahre müssen wir vielmehr nutzen, um wieder der Motor für gesellschaftliche Veränderung zu werden. Dass wir auch aus der Opposition heraus Gesellschaft verändern können, haben wir zuletzt eindrucksvoll mit der Ehe für Alle bewiesen.
Für klare grüne Kante und unverkennbare grüne Inhalte müssen jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Dann haben wir die Chance, als progressive Kraft der linken Mitte zu neuer Stärke zu finden. Die Gesellschaft braucht nach dieser Wahl ein starkes Gegengewicht umso dringender. Grüne mit klarer Haltung und einem sicheren Kompass können und müssen dieses Gegengewicht sein.
1. Oktober 2017 um 10:05
Herzlichen Dank!
16. Dezember 2017 um 15:09
Das kann ich nur unterstützen.
Kurt OV Bad Oldesloe