In diesem Sommer haben viele das Buch des französischen Philosophen und Soziologen Didier Eribon, „Rückkehr nach Reims“, gelesen. Eribon geht darin der Frage nach, warum große Teile der französischen Arbeiterschaft aufgehört haben, "links" und stattdessen den Front National zu wählen. Er beschreibt dieses Wahlverhalten als den "Hilferuf" einer Schicht, die nur noch so auf sich aufmerksam zu machen weiß. Selbst Arbeiterkind, beschreibt er dies dicht und mit großem Zorn und gleichzeitig ohne die geringste Rechtfertigung des Rassismus, des Antisemitismus und der Homophobie in diesen Milieus, die er, selbst schwul, lange genug hat erleiden müssen. So wenig die Situation in Frankreich und in Deutschland vergleichbar ist, so spannend sind seine Überlegungen für unsere sozialpolitische Debatte, die wir in diesem Jahr vor dem Hintergrund grundlegend verschobener politischer Rahmenbedingungen führen.
Wie Eribon darstellt, „erschienen die abgehängten Menschen in der Öffentlichkeit irgendwann nur noch als Objekte fordernder Dressurmaßnahmen, aber nicht mehr als Träger von Rechten, Stimmen von Interessen, als politische Subjekte, als Menschen mit bitteren Kapitalismuserfahrungen, die am Ende, als sie aussortiert wurden, auch noch hinnehmen mussten, dass die Kapitulation mit dem zynischen Namen einer »Eingliederungsvereinbarung« versehen war. Als sei die Sozialleistung ein privatrechtliches Kreditgeschäft.“ (1)
Am kommenden Wochenende befassen wir auf der Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) in Münster unsere GRÜNE Positionierung zu sozialer Gerechtigkeit und sozialem Zusammenhalt. Der Leitantrag des Bundesvorstands fordert zu Recht eine Erhöhung der ALG-II-Regelsätze, eine Ausweitung des Sozialen Arbeitsmarktes und die Weiterentwicklung der Grundsicherung zu einer individuellen Leistung, damit die Benachteiligung vor allem auch von Frauen nicht weiter zementiert wird. Die bestehende Passage im Antrag fordert auch ein Sanktionsmoratorium, entsprechend unseres BDK-Beschlusses von 2012, der damals knapp gefasst wurde. In der Zwischenzeit sind weitere hunderttausende Sanktionen verhängt worden, die meisten wegen Meldeversäumnissen. Jede einzelne Sanktion belastet das Klima in den Jobcentern bzw. Arbeitsagenturen, ist bürokratisch und gefährdet das Existenzminimum. Umgekehrt ist ein positiver Einfluss auf die Verhinderung von Langzeitarbeitslosigkeit durch schärfere Sanktionen weiterhin empirisch nicht nachgewiesen. Eine grundsätzliche Kritik an der Praxis der Sanktionen sowie eine Forderung nach deren Ende halten wir für angemessen und haben daher gemeinsam mit vielen anderen einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht. (2)
In der zugespitzten Wahlauseinandersetzung, vor der wir im kommenden Jahr stehen werden, müssen wir GRÜNE überzeugende Antworten auf die sozialen Fragen unserer Zeit geben. Das Erstarken des Rechtspopulismus in Deutschland ist nicht, wie einige es wollen, monokausal auf sozialpolitische Problemstellungen zurückzuführen. Aber wir wären töricht, die bis weit in die Mittelschicht reichenden Abstiegs- und Existenzängste in unserer Gesellschaft zu leugnen oder als irrational abzutun. Viele haben Angst, im globalisierten Wettbewerb um Arbeit und Einkommen auf der Strecke zu bleiben und sich dann als Objekte der Arbeitsagenturen und Jobcenter wiederzufinden. Weniger noch als die finanzielle Not fürchten sie, Willkür und Gängelung ausgeliefert zu sein.
Wir GRÜNE sehen Menschen im SGB-Bezug nicht als Bittsteller*innen um soziale Almosen. Wir stehen für das Leitbild einer emanzipatorischen Sozialpolitik, bei der das Individuum unteilbare soziale Grundrechte hat. Doch es sind gerade die Sanktionen, die diesem Leitbild diametral gegenüberstehen. In Anhörungen des Deutschen Bundestages haben verschiedene Expert*innen wiederholt Bedenken geäußert, ob die bestehenden Regeln mit einem menschenwürdigen Existenzminimum überhaupt vereinbar seien, zumal viele Jobcenter nicht in der Lage sind, ausreichende und vernünftige Angebote zu machen.
Sanktionsandrohungen und Sanktionen widersprechen dem Prinzip der partnerschaftlichen Zusammenarbeit – zumal es im SGB II kaum Möglichkeiten gibt, auf Verhaltensänderungen der Betroffenen zu reagieren. Der kooperative Charakter des Fallmanagements wird durch Regelsanktionen, die bis zur vollständigen Streichung des ALG II reichen, im Kern gefährdet. Vor allem die Sanktionen bei Personen unter 25 Jahren sind bedenklich im Hinblick auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Sie sind kontraproduktiv, weil sie die Betroffenen häufig aus dem Eingliederungsprozess herausdrängen.
Haben wir also den Mut und die Entschlossenheit, die derzeitige Sozialgesetzgebung spürbar für die Betroffenen an einer sehr entscheidenden Stelle zu ändern. Streiten wir für eine Grundsicherung, die Teilhabe ermöglicht, die angstfrei und würdevoll ist und die das Existenzminimum unangetastet lässt!
(1): Dirk Linck: Die Politisierung der Scham. Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“. https://www.merkur-zeitschrift.de/2016/09/01/die-politisierung-der-scham-didier-eribons-rueckkehr-nach-reims/
(2): https://bdk.antragsgruen.de/40/Wir_investieren_in_Gerechtigkeit-38726/2642
7. November 2016 um 10:02
Die anzustrebende Lösung des Problems scheint mir einfach und logisch:
Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht garantieren jedem Staatsbürger das Existenzminimum. Das gilt ohne Ausnahme. Das bedeutet, dass daran aus Gründen der Verhaltens sanktionierung keine Abstriche gemacht werden können.
Wenn man trotzdem daran festhalten will, Fehlverhalten zu sanktionieren, – was ich für richtig halte – dann bleibt nur die Lösung, das normale Hartz-IV Niveau anzuheben, sozusagen ein Wohlverhaltens-Niveau, das bei Fehlverhalten auf das absolute Minimum abgeschmolzen wird. Dies sind die Bürger, die dann ertragen müssen, zur untersten Bürgerklasse zu gehören, weil sie nicht bereit sind, das Reziprozitätsprinzip einzuhalten, d.h. für die staatliche Unterhaltsleistung als Gegenleistung, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Dies erscheint mir eine gerechte Lösung zu sein.
7. November 2016 um 12:47
Lieber Dierk,
"Wenn man trotzdem daran festhalten will, Fehlverhalten zu sanktionieren, – was ich für richtig halte – dann bleibt nur die Lösung, das normale Hartz-IV Niveau anzuheben, sozusagen ein Wohlverhaltens-Niveau, das bei Fehlverhalten auf das absolute Minimum abgeschmolzen wird. Dies sind die Bürger, die dann ertragen müssen, zur untersten Bürgerklasse zu gehören, weil sie nicht bereit sind, das Reziprozitätsprinzip einzuhalten…"
"…ertragen müssen, zur untersten Bürgerklasse zu gehören."
Neben dem, dass ich mir schwertue, jemanden als "unterste Bürgerklasse" einzuordnen und, dies in offensichtlichem Sanktionswillen, mit "ertragen müssen" zu konnotieren… Was bedeutet das und, woran machst du willst du das festmachen? Wie kann ein Behördenmitarbeiter wissen, wann er jemanden zu dieser "untersten Bürgerklasse", wie du es formulierst, einordnen soll und *kann* das überhaupt jemand beurteilen, ob eine solche Sanktion wie das "auf das absolute Minimum" abschmelzen der Einkünfte im Einzelfall gerechtfertigt ist? Auch ein "Wohlverhaltens-Niveau" spricht für mich die Sprache eines Staates, der sich über den Bürger stellt und diese nach bestimmten Schemata X belohnt und bestraft.
Ein Beispiel: Ein 23-Jähriger wuchs in einem von Gewalt und Alkoholkonsum geprägten Elternhaus auf. Als Junge war er bei schulischen Aufgaben weitgehend auf sich selbst gestellt. Geld für Nachhilfe oder auch nur die Geduld, den Jungen bei Herausforderungen ermutigend zu unterstützen, war nicht da. Er lernt ein Verhalten, das vor allem davon geprägt ist, sich nichts mehr gefallen zu lassen und reagiert auf jegliches Autoritätsverhalten mit massiver Abgrenzung und Gegenwehr. Aufgrund seines Alters und der sozialen Umgebung hatte er noch nicht die Gelegenheit hierüber hinauszuwachsen und reagiert auf die Launen von Ausbildern/Ausbilderinnen, Chefs/Chefinnen mit Verweigerungshaltung und Absentismus am Arbeitsplatz. Er hat und hatte nach wie vor wenig Möglichkeiten, einen Ausbildungsplatz oder Bereich zu finden, der seinen Talenten entspricht und erfuhr und erfährt ohnehin seit seiner Schulzeit aufgrund seines auffälligen Verhaltens und seiner Familiensituation viel Diskrimierung, Nicht-Ernstgenommenwerden und Verurteilung. Im Niedriglohnbereich, in dem auf aufgrund fehlender Schul- und Ausbildungsabschlüsse landet, wird die Situation alles andere als besser. Er FÜHLT sich bereits ganz unten in der Gesellschaft und die Gesellschaft spart nicht damit, ihn spüren zu lassen, wie wenig Chancen er hat und wie sehr er am Rand steht. Nun also, landet er in H4 und erfährt dort, dass er gezwungen wird, sich auf die übelsten Jobangebote, die für ihn am Markt möglich sind, so zu bewerben, dass er sich hier bereitwillig einfügt. Wenn er nach Fortbildungsangeboten fragt, die ihm liegen, erfährt er, dass er dafür nicht die Schulabschlüsse und vielleicht auch nicht die Fähigkeiten mitbringe, etc.
Diese Geschichten sind alles andere als selten und passieren so oder so ähnlich täglich hundertfach.
Diese Maschinerie ist im Grundsatz falsch und nicht lebensfördernd. Sie ist lebens- und menschenfeindlich und ich bin grundsätzlich dafür, dass GRÜNE hier mit einem völlig anderen Menschenbild herangehen, als das mit Sanktionen oder "Wohlverhaltens"-Belohnungen von Seiten des Staates gegeben ist.
Abgesehen davon, ist fragtlich, ob dein Vorschlag mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz wirklich in Einklang stünde, wenn man es ernst nimmt und das wirklich für alle gelten soll.
Wir haben ein Systemproblem: Gewinnmaximierung und kalte Rechenprozesse in Unternehmenszentralen, Niedriglohn bei Unternehmen, die dicke schwarze Zahlen schreiben, usw. Ich denke, das Problem ist bekannt: Der Einzelne wird und wurde weltweit vernetzt zunehmend in ein System eingenordet, das vor allem den Interessen weniger gegenüber den Interessen vieler dient. Wir haben Bildungssysteme, die sich vorwiegend auf Ausleseprozesse, statt auf Integrations- und Konkurrenz, statt auf Kooperation konzentrieren, um auf den Überlebenskampf in einem System vorzubereiten, wo im unteren Bereich ein zunehmend mageres Angebot Ressourcen einer im oberen Bereich zunehmend üppigen Maximierung dieses Angebots gegenübersteht.
Das ist sozialer Brennstoff par exelence und die Gegenwehr der präker Lebenden hat längst begonnen. TEIL dieser Gegenwehr ist Verweigerungshaltung. Spielt also der Staat – so wie es seit H4 der Fall ist – zunehmend das Spiel der entfesselten Wirtschaftsinteressen mit – bedeutet das eine zunehmende Spirale der Eskalation eines Systems, das immer mehr Verlierer produziert.
Solange wir also dieses System nicht umfassend verändern können, müssen wir meiner Ansicht nach gerade als GRÜNE hier einen langfristig in die Zukunft vorausdenkenden Gegenpol der Vernunft setzen und uns weigern, dieses üble Spiel von der staatlichen Seite aus politisch weiter zu unterstützen.
Menschen beuten Menschen aus, wenn sie ein System vorfinden, das Ausbeutung belohnt und ihr zu wenig Grenzen setzt. Das war nie anders, solange es Herrschafts- und Staatssysteme gab. Wir leben meiner Ansicht nach – anders als in früheren Zeiten – nun zunehmend in einem weltweit vernetzten und inzwischen – anders als zu Zeiten der offenen Sklaverei – in einem hochentwickelten Ausbeutungssystem. Nichtsdestotrotz ist es noch immer ein Ausbeutungssystem. Der Staat hat alle Hände voll zu tun, das durch bestimmte Regularien einzugrenzen. Er sollte aufpassen, dass er sich hier nicht noch zum Handlanger macht, sondern eben dieser eingrenzenden Aufgabe gerecht werden. Es sind nicht die Harz-IV-Empfänger, die uns das Geld aus der Tasche ziehen. Das sollten wir alle uns meiner Ansicht nach immer wieder bewusst machen, wenn wir über "Sanktionen" sprechen.
Ich bin übrigens Selbstständige, arbeite also nicht im öffentlichen Dienst oder einem sicheren Arbeitsplatz, wie man vielleicht aufgrund meiner Ansichten vermuten könnte ;). Ich habe im Gegenteil als junge Frau selbst in prekären Arbeitsverhältnissen klarkommen müssen und komme aus einem ebenso prekären Arbeiterhaushalt. Erst später konnte ich mir einen Weg nach "weiter oben" freischaufeln und bin das, was man "Bildungsaufsteiger" nennt, während ich mir all das selbst erarbeiten und verdienen musste: Jeden Cent. Ich bin mir jedoch gerade aufgrund dieser Geschichte sehr bewusst, wie schmal der Grat ist und wie leicht man in der "untersten Bürgerklasse" nach noch weiter unten abstürzen kann. Ich bin mir bewusst, dass es auch ein wenig Glück braucht, um da rauszukommen. Nicht jeder hat dieses unabdingbare Quentchen Glück… Ich möchte nicht, dass diese Menschen noch weiter gedemütigt werden, als sie es durch dieses System ohnehin schon sind und bin aus tiefster Überzeugung für eine teilhabe- und würdefördernde Erhöung und gegen jegliche Form von Sanktionen im Bereich der Grundsicherung.
Viele Grüße
Susanna