Grün.Links.Denken

Für anständige Sprache entschuldigt man sich nicht.

Ich weiß nicht, wie oft ich schon hören musste, was angeblich am Aufstieg der Rechten schuld ist. Die „politische Korrektheit“ soll es gewesen sein, zu viel „Identitätspolitik“ habe den Einsatz für die „einfachen Arbeiter“ oder die „Mitte der Gesellschaft“ vergessen lassen. Übersetzen wir das mal ins Deutsche: Der Kampf für die gleichen Rechte von Frauen, Schwulen, Lesben und Menschen mit anderer Hautfarbe soll dazu geführt haben, dass Mitte-Links-Parteien Hedgefonds den Teppich ausgerollt, am Sozialstaat gespart und Löhne einem Wettbewerb nach unten ausgesetzt haben. Was für ein Unsinn!

Gründe für die ungerechte Wirtschafts- und Sozialpolitik der vergangenen Jahrzehnte waren neoliberales Denken und die Machtverhältnisse einer ungeregelten Globalisierung. Eine neue Bertelsmann-Studie hat gerade gezeigt, dass in den Wahlerfolgen der rechten Parteien auf eine hässliche und sehr destruktive Art Protest gegen die Art von entfesseltem globalen Markt zum Ausdruck kommt, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Das ist zwar nicht überraschend, aber insbesondere bitter für die Menschen, die sich aus sozialen und ökologischen Motiven schon seit Jahren gegen eine rein kapitalistisch getriebene Globalisierung gestellt haben. Die Globalisierungskritik von rechts ist aufs Schärfste abzulehnen. Nationalismus ist keine Lösung, sondern ein gefährlicher Irrweg. Aber internationalen Handel und Austausch in Kooperation wird es nur dann weiter geben, wenn wirklich alle davon profitieren, wenn wir den Handel zum Vorteil der Menschen, der Umwelt, der Arbeitnehmer und der Städte und Gemeinden gestalten! Wenn uns das nicht gelingt, dann fällt die Welt zurück in den nationalen Egoismus, in den kollektiven Identitätsrausch und den Hass gegeneinander.

Den Kampf für die gleichen Rechte von Frauen, Schwulen, Lesben und Menschen mit anderer Hautfarbe für die Probleme des Rust Belt oder der alten Industriestädten Englands verantwortlich zu machen, ist eine falsche und hochgefährliche Sündenbock-These. Leider gibt es sie rechts wie links.

Die Rechte kanalisiert die oft ungerichtete Wut vieler Menschen über frustrierende Verhältnisse auf selbstbewusste Frauen, Menschen anderer Lebensstile oder anderen Aussehens. Sie fantasiert sich ein „Volk“ zurecht, das von einer imaginären „Elite“ gegängelt wird und ignoriert, dass der Gleichstellungskampf mitten aus eben dieser Bevölkerung kommt und in ihr heute auch mehrheitlich fest verankert ist. Nicht die rechten Fantasten, sondern „wir“ wären also das „Volk“, wenn man diesen heute so oft missbrauchten Satz denn guten Gewissens noch benutzen könnte. Wenn die AfD ihren Wahn als „Mut zur Wahrheit“ gegen „politische Korrektheit“ annonciert, sollten Linksliberale einen solchen demagogischen Unsinn nicht kleinlaut in ihre Sprache übernehmen, sondern klar zurückweisen. Der Gleichstellungskampf richtet sich gegen niemanden, er schützt Menschen vor Diskriminierung, Verhöhnung und Gewalt.

Auf der Linken beklagt man derweil, die „soziale Frage“ sei vergessen worden und sieht die Schuld bei zu vielen Frauenbeauftragten oder Gay Pride Paraden. Mit Verlaub: Wer soziale Fragen und kulturelle Anerkennung gegeneinander ausspielt, hat vor der neuen Rechten bereits kapituliert. Und: Kein soziales Problem rechtfertigt, die Wut darüber an Frauen oder Eingewanderten auszulassen.

Nach einer neuen Umfrage glaubt mittlerweile jeder zweite Deutsche, er dürfe nicht mehr offen seine Meinung sagen. Das zeigt, wie weit sich das Klischee der Meinungsdiktatur bereits durchgesetzt hat. Dabei gilt, man darf in Deutschland fast alles von sich geben, einschließlich des vielen Online-Unrats unserer Tage, der den Namen „Meinung“ kaum verdient. Ja, offene und rohe Diskriminierungen in der öffentlichen Sprache wurden zurückgedrängt. Dabei geht es allerdings schlichtweg um  Selbstverständlichkeiten des Anstands, um einen respektvollen Umgang miteinander. Denn was wollen die Sarrazins dieses Landes so dringend wieder „sagen dürfen“? Sie weisen die Zumutung zurück, den einzelnen Menschen zu unterscheiden. Eingewanderte seien kriminell, Frauen irrational – so etwas dürfe man „doch wohl noch sagen“. Sollte man nicht, denn jeder Mensch ist anders und hat einen respektvollen Umgang als Einzelner verdient. Und wer solche Anstandsregeln als „Diktatur“ empfindet, der will die elementaren Grundwerte unserer Gesellschaft nicht verstehen.

Keine Diskriminierung nach Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Identität oder Religion, das sind Werte unseres Grundgesetzes und der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte. Dafür entschuldigt man sich nicht. Diese Werte hat auch keiner „zu weit getrieben“. Schließlich maßt der Staat sich immer noch an, die Liebe zwischen zwei Menschen je nach Geschlecht anders zu beurteilen. Immer noch haben Frauen ökonomisch und gesellschaftlich weniger Möglichkeiten als Männer. Immer noch wird nach Hautfarbe und Herkunft diskriminiert. Da gilt es weiter zu streiten und nicht erschrocken innezuhalten, weil ein Günter Oettinger sich von einer fantasierten „Pflicht-Homoehe“ bedroht fühlt und für derartigen Unsinn ein paar hässlich enthemmte Beifalls-Lacher erntet. Und ja, auch gegen Salafisten und Islamisten verteidigen wir diese Werte; das sei den echten oder automatischen Trolls vorab gesagt, die sich schon gleich wieder unter diesem Artikel versammeln werden.

Fragt man sich selbst geißelnde Liberale nach Beispielen für angebliche Übertreibungen des Gleichstellungskampfes, wird es absurd: Unisex-Toiletten! Sie sollen also nun am Aufstieg der europäischen Rechten schuld sein. Unisex-Toiletten haben Tradition. Die Eisenbahnen in Deutschland fahren doch schon seit über 100 Jahren mit diesen WCs.

Alle Parteien links der Mitte haben Grund zur Selbstkritik. Aber nicht weil sie den Antirassismus oder den Feminismus zu weit getrieben haben. Es gibt auch die vielen Millionen Menschen, die Trump nicht wegen, sondern trotz seiner Hetze gewählt haben. Weil er ihnen das soziale Versprechen gegeben hat, das sie Hillary Clinton nicht mehr geglaubt haben. Ähnliches sehen wir auch bei den Wählern des Brexit, des Front National, der FPÖ. Auch meine Partei kann besser darin werden, Menschen in die zusammenwachsende Welt mitzunehmen. Angst um Jobs oder Lebensgewohnheiten ist verständlich und legitim. Sie existiert in den Biotopen der Besserverdiener genauso wie bei denen, die ohne Erbschaften und Papas Connections in die Welt ziehen müssen. Verlierer von Veränderung brauchen faire Chancen und Hilfe, keine kalte Schulter. Auch beim ökologischen Strukturwandel.

Also raus aus den „eigenen“ Milieus, aber mit der richtigen Botschaft! Universale Menschenrechte sind keine Übertreibung, sondern der zivilisatorische Standard, den es nun zu verteidigen gilt. Handel muss fair und gerecht sein, soziale Ungleichheit darf nicht aus dem Ruder laufen. Wenn ich die zerknirschte Linke nach dem Trump-Trauma höre, frage ich mich, ob sie das Kämpfen und Streiten komplett verlernt hat. Als ich jung war, wurde man noch nicht von Social Bots, sondern vom Ministerpräsidenten persönlich verunglimpft. Franz Josef Strauß wollte „rote Ratten“ in „ihre Löcher“ verjagen, war stolz „kalter Krieger“ und kein „warmer Bruder“ zu sein, und hielt Demokratisierung für Anarchie. Welcome Back to the Future.

 

Die Kurzfassung des Textes erschien in der Frankfurter Allgemeinen am 9. Dezember diesen Jahres.

Autor: Toni Hofreiter

Toni Hofreiter ist Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen

Ein Kommentar

  1. Sagt mal was zum Rassismus von Boris Palmer. Laut taz sieht er sich wieder in der Mitte der Partei.

    Setze noch hinzu, dass das neoliberale Denken nicht irgendwo im Raum schwebt, sondern ganz konkret bis in "linke" Kreise der Partei verbreitet ist und bis heute nicht angegangen wird. (Kannst mir ja das Gegenteil beweisen.)