Das Jahr des Volkszorns
2015 war das Jahr des Volkszorns. Auf den Straßen, aber auch in den sozialen Medien wurden massenweise Gewaltphantasien, rassistische und antisemitische Ressentiments, demokratiefeindliche und verschwörungsideologische Kommentare geäußert. Auch die Anzahl rassistisch motivierter Straftaten, wie etwa Brandanschläge auf Asylunterkünfte, ist in erschreckendem Ausmaß gestiegen. Die zahlreichen Attacken auf Abgeordnetenbüros, die auf einer Pegida-Demonstration gezeigten Galgen für Merkel und Gabriel oder die Messerattacke auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker sind erschreckende Beispiele für die zahlreichen antidemokratischen Gewalttaten und -androhungen gegen Politiker_innen.
Pegida und AfD haben dem Zusammenrücken von Rechtsradikalen und „besorgten Bürgern“ den Weg bereitet, liefern verkürzte Analysen und einfache Antworten auf komplexe Probleme der globalisierten Welt. So dienen sie als Impulsgeber für reaktionären Populismus, Demokratiefeindlichkeit und rechte Gewalt und bewirken eine Enthemmung der öffentlichen Debatte. Viele öffentliche Facebook-Seiten kommen mit der juristischen Verfolgung strafrechtlich relevanter Hasskommentare und Gewaltandrohungen unter ihren Postings schon gar nicht mehr hinterher.
Demokratie in der Krise
In Krisenzeiten wird die neoliberale Entdemokratisierung sichtbarer denn je: Das Handeln demokratisch gewählter Regierungen, wird etwa in Griechenland von demokratisch nicht legitimierten Playern wie der Troika geleitet. Milliarden werden in die Bankenrettung gepumpt. Gleichzeitig werden Ausgaben für Bildungsinfrastruktur und Sozialleistungen gekürzt. Freihandelsabkommen werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Das führt logischerweise zu Misstrauen und Frustration.
Die rechtspopulistischen Kräfte haben das Misstrauen in Demokratie und Parlamentarismus für sich nutzbar gemacht. Rechtspopulismus bietet autoritäre, nationalistische Antworten auf das Misstrauen in die parlamentarische Demokratie und liefert klare Feindbilder. So wird die Unzufriedenheit mit systemischen Problemen auf Minderheiten oder Einzelpersonen projiziert. Daraus folgt die weit verbreitete Annahme, dass jene Probleme durch die Bekämpfung von Minderheiten bekämpfbar seien. Auch die Gewaltandrohungen gegen Politiker_innen, die als Systemrepräsentant_innen ausgemacht werden, folgen dieser Scheinlogik.
Zusätzlich wurde die gestiegene Anzahl an Asylbewerber_innen von Pegida, AfD und Co instrumentalisiert, um rassistisch geprägten Sozialneid, Angst und Hass noch weiter zu schüren. Abschottung und Renationalisierung sind die reaktionären Antworten auf die Probleme, die die Globalisierung mit sich bringt beziehungsweise erfahrbar macht. AfD und Pegida scheinen zumindest durch Verdrängung einen Ausweg aus der Konfrontation mit der globalen Ungerechtigkeit zu bieten und offerieren eine Artikulationsmöglichkeit für das unbefriedigte Bedürfnis nach Mitbestimmung und „Gehörtwerden“ in der kriselnden Demokratie.
Antworten auf das Misstrauen in die Demokratie
Die Reaktionen der demokratischen Parteien auf diese Entwicklungen sind unterschiedlich. Natürlich zeigen sich alle besorgt angesichts des Anstiegs rassistisch motivierter Straftaten oder der Hasskommentare in den Sozialen Medien. Allerdings haben die CSU, aber auch Teile der CDU immer wieder versucht, von dieser Stimmung zu profitieren und die Bevölkerung in ihrem rassistischen Ressentiment zu bestätigen. Die CSU beispielsweise brachte erst kürzlich wieder mit der Forderung, Geflüchteten ohne Papiere die Möglichkeit auf einen Asylantrag schon an der Grenze zu verwehren, einen absolut realitätsfernen, menschenverachtenden Vorschlag ein, um sich auf Kosten ihrer Koalitionspartner und auf Kosten Geflüchteter bei den Wähler_innen zu profilieren. Erst kürzlich hat Horst Seehofer erneut Obergrenzen gefordert. Solche Vorstöße dienen offensichtlich lediglich der Effekthascherei. Denn meist sind sie weder juristisch durchdacht, noch in der Koalition vorbereitet. Doch genau dadurch verursachen sie große mediale Aufmerksamkeit.
Der Konsens in Krisenzeiten
Wir Grüne hingegen verurteilen diese Strategie zurecht als Wahlkampfunterstützung für die AfD. Viele Grüne versuchen, diesen Kurs pauschal von dem vernunftgeleiteten, demokratischen und verantwortungsvollen Handeln der anderen im Bundestag vertretenen Parteien abzugrenzen. Natürlich ist es richtig, die AfD klar zu isolieren und als demokratiefeindliche Kraft zu markieren. Doch dies darf nicht zu einer Verwischung der politischen Unterschiede zwischen Regierung und Opposition bzw. zwischen den Parteien, führen. Die Strategie der Bundesregierung, ihre eigene reaktionäre Politik als alternativlos darzustellen, wird ansonsten nicht nur entproblematisiert, sondern sogar unterstützt.
Immer wieder haben grüne Entscheidungsträger_innen den „Konsens in Krisensituationen“ und den Zusammenhalt der demokratischen Kräfte in schwierigen Zeiten beschworen. Gerade die französischen Regionalwahlen haben dieser Idee natürlich ein Erfolgserlebnis geliefert: durch das Bündnis der Sozialistischen Partei mit der Republikanischen Partei konnte ein Wahlsieg der rechten Front National verhindert werden.
Dies ist zweifelsfrei ein Erfolg. Jedoch belegt dieses Notfall-Manöver in Frankreich keinesfalls die Wirksamkeit der Strategie im Kampf gegen Rechtspopulismus. Denn es nutzte kurzfristig, wird den Rechten aber kaum ihre Argumentationsgrundlage entziehen können. Im Gegenteil: Marine Le Pen und ihre Front National konnten die Strategie vielmehr in ihre demokratiefeindlichen Parolen integrieren und sich als Opfer der Klüngeleien des Establishments darstellen.
Auch die AfD geriert sich selbst als die einzige Alternative zur verbandelten Politik-Elite und stellt sich als die „wahren Volksvertreter“ dar. Auch die Linkspartei bedient sich teilweise dieser Strategie. Wir Grüne dagegen verstärken mit unserer Betonung des Konsens den Eindruck, es gäbe bis auf die AfD und vielleicht noch die Linkspartei keine Alternative zur aktuellen Politik.
Ganz unabhängig von der Frage, ob es uns Grünen Glaubwürdigkeit verschafft, sich als neue Volkspartei zu verkaufen, ist das Anbiedern an den Kurs der Bundesregierung genau die falsche Antwort auf Politikverdrossenheit. Der „Konsens in Krisenzeiten“ ist ein Euphemismus für Profilverlust und Mutlosigkeit. Es ist eine Steilvorlage für den Vorwurf der Austauschbarkeit der Parteien und bestätigt das Misstrauen in die Demokratie.
Progressives Grün in Krisenzeiten!
Gerade in Zeiten der Entpolitisierung und gefährlicher Demokratiefeindlichkeit müssen Parteien ihre Unterscheidbarkeit betonen, unterschiedliche proaktive Vorschläge anbieten, ihr Profil schärfen und sich nicht von der Angst vor der Bevölkerung lähmen lassen. Parteien müssen als verantwortungsbewusste, meinungsbildende Kräfte auftreten, statt sich nur an bereits bestehenden Mehrheiten zu orientieren.
Und gerade wir Grüne müssen dabei proaktiv sein, statt uns von den Rechten in die Rolle eines Klatschvereins für Merkel drängen zu lassen. Mit Bauchpinseleien der Kanzlerin durch die Opposition gewinnt man kein Vertrauen in die Demokratie und erst recht nicht den Kampf gegen den Rechtspopulismus. Gerade wir Grüne sind doch die Partei, die sich den globalen Problemen stellt und bereit ist, gemeinsam faire Lösungen zu entwickeln. Wir sind doch die Partei, die mit den progressiven gesellschaftlichen Bewegungen zusammenarbeiten kann und gute sozialpolitische Konzepte anbietet. Wir sind doch die Partei, die die Einwanderungsgesellschaft gestalten will. Und wir sind die einzige Partei, die zukunftsgewandt für die Demokratisierung Europas kämpft und sich gleichzeitig konsequent gegen die Renationalisierung Europas stellt.
Wir Grüne können die gute, progressive Alternative sein und das sollten wir in der Debatte selbstbewusst nach außen stellen.