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Grüne Flüchtlingspolitik darf mehr

Plädoyer für eine offensive Kritik an falschen Grundsätzen in der Flüchtlingspolitik

„Ja, so schaffen wir das!“ Genau! Dieser auf der vergangenen BDK in Halle (vorläufig) beschlossene Antrag  zum „Grünen Plan für eine menschliche Flüchtlingspolitik und moderne Einwanderungsgesellschaft“ ist ein Erfolg. Vor allem macht er eine Reihe gut durchdachter, konstruktiver Vorschläge dafür, wie wir die Situation von Flüchtlingen in Deutschland kurz- und mittelfristig verbessern können.

Dennoch könnte dieser Antrag moralisch konsequenter und politisch visionärer, kurz, er könnte mutiger sein.

Denn so sehr die Vorschläge für ein Integrationsministerium, ein Einwanderungsgesetz, sowie ein Investitionspaket zur Integration von Flüchtlingen überzeugen – der Antrag lässt zwei moralisch verwerfliche Grundsätze der Flüchtlingspolitik gänzlich unberührt: die Unterscheidung zwischen „echten“ / politischen Flüchtlingen und „Wirtschaftsflüchtlingen“ einerseits sowie das weitreichende Recht von Staaten, Menschen aus anderen Ländern den Zuzug zu verweigern, andererseits. In einer Grünen Politik sollten dem

1. die Gewährleistung von Schutz in Notsituationen und

2. ein universelles Recht auf Bewegungsfreiheit

als moralische Gebote gegenüber gestellt werden.

 

Im Einzelnen:

  1. Die Unterscheidung zwischen politischen Flüchtlingen und „Wirtschaftsflüchtlingen“ ist moralisch unhaltbar

Es ist kein Zufall, dass die „unterlassene Hilfeleistung“ in Artikel §323c des StGB als Straftatbestand definiert ist. Das deutsche Recht ist hier sehr eindeutig. Bestraft wird, wer  angesichts einer Notsituation keine Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich wäre und den Umständen nach, d.h. unter Ausschluss von Selbstgefährdung, dem/der potentiellen Helfer*in zuzumuten ist.  Ob man sich nun utilitaristisch oder deontisch der Frage nach Hilfspflichten nähert – das Strafrecht greift hier eine moralische Grundüberzeugung auf, die weitgehend unbestritten sein dürfte. Diese moralische Pflicht zur Hilfeleistung in extremer Not macht nicht an nationalen Grenzen halt. Sie bildet daher auch den Kern zahlreicher Menschenrechte sowie der Genfer Flüchtlingskonventionen. Allerdings sind die Genfer Konventionen nicht konsequent in der Übersetzung dieses moralischen Gebots in wasserfestes internationales Recht. Denn extreme Notsituationen, welche Menschen zur Flucht zwingen, können sowohl politische (z.B. Androhung lebenslanger Haft für Dissidenten), als auch wirtschaftliche (z.B. lebenslange Haft in extremer Armut) Ursachen haben. Diese Einsicht ist so banal wie sie politisch radikal ist. Denn offensichtlich werden in Europa Tag für Tag Menschen, die durch ihren Hunger zur Flucht gezwungen wurden als „Illegale“ kriminalisiert, eingesperrt und wieder abgeschoben. Ihr Verbrechen besteht darin, Not aus den falschen Gründen erfahren zu haben. In dem beschlossenen BDK-Antrag heißt es an einer Stelle:

„Wir GRÜNE akzeptieren die Beweggründe aller Geflüchteten – ob Krieg, Terror, politische Verfolgung durch den Staat, Unterdrückung durch die Mehrheit, Armut.“

Allein: diese Textstelle bleibt seltsam isoliert und geht so im Antrag angesichts mangelnder Verbündeter unter. Es folgt keine Forderung, geschweige denn eine Strategie, die aus dieser Einsicht resultiert. Das vage „Wir akzeptieren die Beweggründe aller Flüchtlinge“ verkommt zur Floskel, während es doch einen Antrag für sich verdient hätte.

 

  1. Das staatliche Recht auf Ausschluss vs. dem individuellen Recht auf Bewegungsfreiheit

Während wir uns als Staatsbürger innerhalb von Staaten frei bewegen können, macht diese Bewegungsfreiheit für die große Mehrheit der Weltbevölkerung an den Staatsgrenzen halt. Diese Tatsache nehmen wir weitgehend als selbstverständlich hin. So selbstverständlich, so falsch. Denn es ist nicht nachvollziehbar, warum Staaten dieses weitreichende Recht auf Ausschluss haben sollten.  Vielmehr müssen die Interessen einer politischen Gemeinschaft mit dem Interesse an Bewegungsfreiheit  der potentiellen Einwander*innen in Einklang gebracht werden.

Um Missverständnisse zu vermeiden: ich denke, dass wir zu Recht einen Unterschied zwischen Menschen machen, die aus Not zur Flucht gezwungen werden und jenen, die aus anderen Gründen ihre Heimat verlassen. Wo die Ressourcen knapp sind, übertrumpft das Gebot zur Hilfe in Not die Bewegungsfreiheit. Doch lässt sich mit dieser Feststellung die Praxis unserer permanenten Zwangsausübung an den Außengrenzen auf Kosten der Bewegungsfreiheit nicht annähernd begründen.

Der Philosoph John Rawls hat den Grünen bis zum heutigen Tag gute Dienste erwiesen. Die Rawlsche Verbindung egalitärer und liberaler Prinzipien in seinem bahnbrechenden „A Theory of Justice“ waren der intellektuelle Ursprung zentraler Grüner Gerechtigkeitsbegriffe wie jenem der „Erweiterten Gerechtigkeit“. John Carens hat sich in „Aliens and Citizens: The Case for Open Borders“ die Mühe gemacht, Rawls Gedankenexperiment auf die Frage der Migration anzuwenden. Wie bei Rawls treffen hier Menschen in einer fiktiven Entscheidungssituation – der „ursprünglichen Position“ (original position) – hinter einem „Schleiers des Nichtwissens“ (veil of ignorance) aufeinander um zu verhandeln, nach welchen Regeln die Bewegungsfreiheit aller reguliert werden soll. Hinter diesem Schleier bleibt allen verborgen, über welche zufällig erworbenen Fähigkeiten, Talente, Präferenzen und über welchen materiellen Besitz man verfügt. Es sollen also jene Eventualitäten ausgeschlossen werden, die von einem moralischen Gesichtspunkt aus willkürlich sind. Angewandt auf die Frage nach gerechten Regeln für die Migration bedeutet dies, dass ich in der ursprünglichen Position nicht weiß, ob ich in einem reichen oder einem armen Staat, mit oder ohne gesetzliche Krankenversicherung etc. geboren werde. Wenn wir uns selbst in diese Position versetzten – wie würde unsere Wahl ausfallen? Welche Institutionen sollten global geschaffen werden, um Gerechtigkeit herzustellen? So wie Carens bin auch  ich davon überzeugt, dass ein universelles Recht auf Bewegungsfreiheit in den Überlegungen der meisten Menschen eine zentrale Rolle spielt. Denn selbst wenn wir das Szenario der notgedrungenen Flucht ausschließen, bleiben zahlreiche, sehr gute Gründe bestehen, welche die Migration in ein anderes Land nahe legen. Dazu gehört ein attraktiver Job ebenso wie der Wunsch, sich einer bestimmten religiösen Gemeinschaft anzuschließen oder gewissen kulturellen Neigungen nachzugehen. Auch kann man sich in einen Menschen aus einem anderen Land verlieben. Jeder hat seine Gründe, von einer Stadt in die andere zu ziehen – innerhalb von Staaten ebenso wie zwischen Staaten. Völlig zu Recht nehmen wir an, dass unsere Bewegungsfreiheit innerstaatlich garantiert sein müsse. Zu Unrecht gehen wir hingegen davon aus, dass das Prinzip staatlicher Souveränität den massiven Eingriff in die globale Bewegungsfreiheit rechtfertigen würde. Um Menschen an der Grenze abzuweisen braucht es gute Gründe. Die Wahrung von Privilegien gehört nicht dazu.

Wenn die Gerechtigkeitsphilosophie von John Rawls normativ zustimmungspflichtig ist, so ist sie es auch im Bezug auf Migrationsfragen. Ebenso wie die Pflicht zur Hilfe in Not machen Prinzipien gerechter Verfahren nicht an Ländergrenzen halt. Die Missachtung des moralisch gebotenen Rechts auf Bewegungsfreiheit zwischen Staaten ist daher inkonsequent und falsch.

 

  1. Realitäts-Check: Zentrale Einwände und warum sie nicht überzeugen

Der wohl zentrale Einwand gegen die Forderung eines umfassenden Verständnisses von humanitärer Nothilfe sowie nach dem Recht auf globale, individuelle Bewegungsfreiheit zwischen Staaten könnte sein, dass sie vielleicht wünschenswert, aber angesichts der bestehenden politischen Verhältnisse vollkommen utopische sind.

Darauf lässt sich entgegnen, dass man nur dann eine gute Politik im Hier und Jetzt machen kann, wenn die langfristigen Ziele klar sind. Es geht also explizit nicht darum, unsere grünen Politiker*innen auf allen Ebenen mit Ansprüchen zu überfordern, die derzeit nicht umsetzbar sind. Bestehende rechtliche wie politische Normen sind sozial konstruiert und daher grundsätzlich auch jederzeit veränderbar.  Doch hat John Searle in „The Construction of Social Reality“ überzeugend dargestellt, dass „soziale Tatsachen“ wie die Genfer Konvention, das Prinzip staatlicher Souveränität als auch die derzeitige Feindseligkeit vieler EU Mitgliedstaaten gegenüber Einwander*innen häufig eine beachtliche Kontinuität aufweisen. Soziale Tatsachen sind, nur weil sie sozial konstruiert werden, nicht willkürlich oder ständig in Bewegung. Grüne Politiker*innen müssen sich also tagtäglich zu diesen zum Teil sehr menschenverachtenden sozialen Tatsachen verhalten. Darin sollten wir sie unbedingt stärken und die Energie grundsätzlich dahin lenken, wo sie gebraucht wird: in der Auseinandersetzung mit reaktionären, gar fremdenfeindlichen gesellschaftlichen Kräften.

Dennoch ist klar, dass die politischen Auseinandersetzungen im Hier und Jetzt ohne normativ verankerten Fluchtpunkt in der Luft hängen. In dieser Balance zwischen der Einsicht in soziale (politische) Realitäten einerseits  und der dazu parallel laufenden Verwirklichung moralischer Grundüberzeugungen andererseits, liegt die wahre Kunst ausgereifter Politik. Die Asylrechtsverschärfungen der vergangenen Monate sind mit diesem Anspruch nicht in Einklang zu bringen.

Ein weiterer Einwand könnte darin bestehen, dass die Menschen in Deutschland und Europa „nicht überfordert“ und dass Ängste „ernst genommen“ werden müssten. Doch die These, Politik müsse die Ängste in der Bevölkerung als einen Maßstab ihres Handelns ernst nehmen, muss zurückgewiesen werden. Auch Ängste müssen kritisch hinterfragt werden. Andernfalls müssten wir akzeptieren, wenn beispielsweise in zahlreichen osteuropäischen Staaten die Rechte homosexueller Menschen aus „Angst vor Ansteckung“ eingeschränkt würden. Ängste, die auf verwerflichen Grundüberzeugungen wie Homophobie oder Fremdenfeindlichkeit beruhen, dürfen nicht in die Gestaltung unserer Politik einfließen.

Wer überzeugend seine Visionen von einem humanen Miteinander vertreten will, sollte auch vor derzeit so unpopulären Einsichten, dass die Trennung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und politisch Verfolgten moralisch verwerflich ist und das die Beschränkung des Rechts auf Bewegungsfreiheit gut begründet sein muss, nicht zurückschrecken. Es wäre nicht das erste Mal, dass Grüne Überzeugungen die heute utopisch anmuten, zu allgemein akzeptierten Grundsätzen deutscher Politik avancieren. Mehr Mut zu einer klaren Position in der Flüchtlingsdebatte!

Autor: Leon Schettler

Leon Schettler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich (SFB) 700 “Governance in Räumen begrentzter Staatlichkeit“ und Mitglied der LAG Frieden in Berlin. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit der Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Etablierung und Anfechtung globaler Normen.

Ein Kommentar

  1. Ein smarter Artikel; mehr davon.

    Beide Forderungen – wirtschaftliche Armut als gültiger Asylgrund; offene Grenzen ohne Ausnahme – sind intellektuell überzeugend. Die entscheidende Frage scheint mir aber jene zu sein, die der Artikel selbst aufwirft: Wann sind radikale Ideen noch visionär, und wann schon utopisch?

    Was würde also passieren, wenn beide geforderten Grundsätze realisiert würden? Gut möglich, dass ein guter Teil jener hunderten Millionen Menschen weltweit, die lieber in Deutschland als in ihren Heimatländern leben würden, nach Deutschland kommen würde. Gut möglich, dass dies dazu führen würde, dass sich der deutsche Gesellschaftsvertrag sowie die deutsche Gesellschaft grundsätzlich verändern würden. Nun ist die Frage: Dürfen die Deutschen wirklich nicht selbst entscheiden, dass sie dies nicht wollen, obwohl es moralisch geboten erscheinen mag?

    Die eigentliche Frage, die hinter dem Artikel steht, zielt gar nicht auf Flüchtlingspolitik, sondern auf die Legitimität nationaler Souveränität. Dürfen Staaten tun, was sie im Sinne ihrer eigenen Bürger für richtig halten, oder muss Politik heute und in Zukunft immer global gedacht werden? Es spricht einiges dafür, dass eine zukunftsorientierte grüne Politik auf die zweite Lösung hinarbeiten sollte. Ob aber die Flüchtlingspolitik hierfür das geeignete Instrument ist, ist eine andere Frage. Es wäre interessant, mehr darüber zu erfahren, wie eine grüne Vision globaler „Staatlichkeit“ aussehen und in Deutschland mehrheitsfähig gemacht werden könnte.