Um es vorweg zu sagen: Natürlich gibt es auf den ersten Blick zahlreiche inhaltliche Schnittmengen zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD auf den Gebieten der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Ob Mindestlohn, Equal Pay, Bürgerversicherung oder Mindestabsicherung in der Rente – in den großen Auseinandersetzungen liegen beide Parteien programmatisch eng beieinander. Interessant ist es allerdings, die grundsätzlichen Perspektiven auf die soziale Frage zu vergleichen und diejenigen inhaltlichen Punkte zu beleuchten, die nicht täglich im Zentrum der öffentlichen Debatte stehen.
Das Hohelied auf die Agenda 2010 als Wahlkampfschlager?
Auffällig ist im „Regierungsprogramm“ der SPD die völlig unkritische Kolportage der Agenda 2010 als im Prinzip erfolgreiches Reformprojekt. Für die politisch auch nur halbwegs wachen Leserin sind offenkundige Widersprüche und Geschichtsklitterung sofort sichtbar: Die angebliche Erfolgsstory der Agenda 2010 (sogar das EEG wird unter dem Stichwort Agenda 2010 eingeordnet!) wird zum Fundament der deutschen Krisenfestigkeit verklärt. Es ist nun Sache der SPD, ob sie überhaupt noch bis auf das Jahr 2003 zurückgreifen will, wenn es um die nächste Wahlperiode geht. Aber wenn sie es schon tut, ist es einigermaßen verwegen, Erscheinungen wie prekäre Beschäftigung, Lohndumping und Tarifflucht bestenfalls als nicht beabsichtigten Kollateralschaden der Agenda 2010 anzusehen – gewissermaßen als Werk von nicht näher benannten Schurken: „Den in diesem Prozess auch entstandenen Missbrauch von Leiharbeit, Minijobs und Niedriglohnbeschäftigung allerdings werden wir korrigieren.“ (Regierungsprogramm der SPD, S. 7) In ihrem (nach dem eigenen Selbstverständnis) Kernbereich hätte man schon eine wenigstens andeutungsweise kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der SPD-Politik erwartet. Schließlich ist für viele SPD-Anhänger und auch für sozialdemokratische PolitikerInnen die Agenda 2010 immer noch eine schwärende Wunde, die deren Mobilisierungsfähigkeit bis zum heutigen Tag entscheidend einschränkt. Wir Grüne haben den Vorteil, die sozialpolitischen Reformen sehr gründlich und – wie das so unsere anstrengende Art ist – sehr grundsätzlich aufgearbeitet zu haben. Vernünftige Strukturentscheidungen (z.B. Hilfe aus einer Hand) haben wir ebenso wie die Fehlleistungen politisch bewertet, was der Grünen Partei nicht nur im Wahlkampf zugute kommt.
Zukunft des Sozialstaats: Arbeit, Arbeit, Arbeit?
Mit dem Slogan „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ bestritt die SPD ihre Wahlkämpfe um die Jahrtausendwende. Irgendwie scheint sie das programmatisch zu wiederholen wollen. Jedenfalls wird ziemlich vollmundig das Ziel der „Vollbeschäftigung“ in „Normalarbeitsverhältnissen“ bei „guter Arbeit“ ausgegeben. Das hört sich doch ziemlich nach der Welt der 70er Jahre an. Um nicht missverstanden zu werden: In den 70ern war nicht alles schlecht und das Ziel der Vollbeschäftigung halte ich durchaus für erreichbar und sinnvoll. Aber die Arbeitsgesellschaft damals war doch geprägt vom Leitbild der Einverdienerehe und den daran gekoppelten Folgen sozialer (Nicht-)absicherung für abhängige Angehörige. Ich will der SPD natürlich nicht unterstellen, dass sie den Weg zu dieser Art von Arbeitsgesellschaft beschreiten will, aber die entsprechenden Programmteile verbreiten so eine entsprechende Stimmung.
Sozialdemokratische Sozialpolitik: Das „Wir“ sind offenbar nicht alle.
Sehr deutlich tritt im SPD-Programm zutage, dass es der Partei hauptsächlich um die arbeitende Bevölkerung geht bzw. diejenigen, die sie dafür halten. Themen wie Mindestlohn, Tarifbindung und „Gute Arbeit“ räumt das Programm viel Platz ein – ebenso den an das Arbeitsverhältnis gekoppelten Sozialversicherungen. Von den mehr als sieben Millionen Menschen, die von Grundsicherung nach SGB II und SGB XII leben, ist fast überhaupt nicht die Rede. Das ist übrigens auch in den Wahlprogrammen von Union und (wen wundert`s) der FDP so. Ich habe den Eindruck, dass die ALG II-Beziehenden auch für die SPD so etwas wie die Unberührbaren darstellen. Allenfalls gut genug, um eine Spitze gegen die Grünen zu setzen, wenn es um die „bezahlbare Energiewende“ oder die „Bionade-Bourgoisie“ geht. Höchstens noch die Kinder in ALG II-Haushalten spielen unter dem Stichwort „Bildungsinfrastruktur eine gewisse Rolle. Da macht die SPD keine Ausnahme vom Mainstream: Je größer der Anteil an Kindern, die im Haushalt mit Grundsicherungsempfängern leben, desto mehr wird über Bildung geredet statt über das, was die Kinder konkret zum Leben brauchen. Na ja. Das tatsächliche Leben unter den Bedingungen der Grundsicherung scheint jedenfalls weitgehend spurlos an den Programmmachern der SPD vorbei gegangen zu sein. Und sie glauben vielleicht nicht, dass bei den ALG II-EmpfängerInnen viele Stimmen zu holen sind. Wenn letzteres so wäre, handelte es sich um eine schwere Fehleinschätzung: Die gut sieben Millionen Menschen, die Grundsicherung beziehen, sind keineswegs jedes Jahr dieselben. Es gibt eine hohe Fluktuation und der Hintergrund der Leistungsberechtigten ist so vielfältig wie das Leben: Vom Studienabsolventen über die Alleinerziehende bis zur Minirentnerin sind alle dabei. Eine empathische Ansprache all jener, die eigene biografische Erfahrungen mit dem Grundsicherungsbezug haben, ist aus meiner Sicht unverzichtbar. Hier haben (schon wieder…) die Grünen einen klaren Vorteil: Nicht nur die Leistungshöhe, sondern auch die rechtlichen Bedingungen, der soziale Arbeitsmarkt und das Thema Sanktionen werden vergleichsweise ausführlich behandelt und belegen, dass wir in punkto Grundsicherung genau da stehen, wo ein Sozialdemokrat wie Kurt Beck sich immer gern sah: „Nah bei de Leut.“
9. August 2013 um 11:58
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18. August 2013 um 16:22
<b><i> „Das Hohelied auf die Agenda 2010 als Wahlkampfschlager?“</i> </b>
… und wenn Eure Spitzenkandidatin, Frau Göring-Eckhardt, diese Hohelied singt?
http://ostsee-zeitung-blog.blogspot.de/2013/08/mir-kotzert-mir-kotzert.html