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Syrien und das Völkerrecht

Auf der BDK 2012 in Hannover haben wir fast einstimmig einen grundlegenden Beschluss zur Responsibility to Protect (R2P) verabschiedet, der neben vielen wichtigen zivilen Aspekten Leitlinien für Militäreinsätze aufstellt und dabei den Grundsatz „Nie ohne VN-Mandat“ des von der BDK 2008 in Erfurt verabschiedeten Kurzberichts der Friedens- und Sicherheitspolitischen Kommission ausführt: „Eine Entscheidung des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung ist eine bindende Voraussetzung, weil ohne ein solches Mandat das Völkerrecht und die Vereinten Nationen massiv beschädigt würden.“ Der Beschluss war ein Meilenstein, der viel dazu beitragen kann, alte friedenspolitische Gräben in der Partei zu überwinden.

Leider wurde dieser Konsens nach dem Giftgaseinsatz in Syrien schnell wieder in Frage gestellt. Die Befürchtungen derer, die in der Bindung an ein VN-Mandat nur ein taktisches Zugeständnis sahen, erhielten neue Nahrung, als entgegen allen vorherigen Beteuerungen behauptet wurde, die R2P berechtige einzelne Staaten oder Staatengruppen zur Durchsetzung des Völkerrechts. Positiv ist aber festzuhalten, dass es sich dabei nur um Einzelmeinungen handelte und die Partei- und Fraktionsspitzen die Beschlusslage klar vertreten haben.

Inzwischen ist die Sichtweise verbreitet, dass ein Völkerrechtsbruch durch die USA vermieden wurde und der Chemiewaffeneinsatz dennoch Konsequenzen hat: Ende gut, alles gut. Dem ist zunächst entgegenzuhalten: Nicht erst der illegitime Einsatz militärischer Gewalt, sondern schon seine Androhung ist ein Völkerrechtsbruch; sie verstößt gegen das Gewaltverbot in Artikel 2, Absatz 4 der VN-Charta: „All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force […]“. Das ist nicht etwa eine juristische Spitzfindigkeit: Androhung ist der Normalfall der Ausübung von Gewalt.

Nun könnte man entgegnen, gut, die USA haben das Völkerrecht gebrochen, aber es diente dem höheren Zweck, die Ächtung von Chemiewaffen durchzusetzen. Diese Argumentation ist nicht stichhaltig.

Zunächst geht es hier um Normen verschiedener Tragweite. So wichtig die Ächtung von Chemiewaffen zweifellos ist, so steht sie doch nicht auf einer Stufe mit dem allgemeinen Gewaltverbot, das unser Grundsatzprogramm zurecht als „eine große zivilisatorische Errungenschaft und einen bedeutenden völkerrechtlichen Fortschritt“ sieht, der „dem Krieg seine Selbstverständlichkeit als Mittel der Politik“ entzieht.

Zu berücksichtigen ist auch die Interessenlage der USA. Sie können keine Chemiewaffen einsetzen; sie haben sich zu ihrer Vernichtung verpflichtet, und ein Einsatz wäre politisch kaum durchsetzbar; sie haben daher durch die Durchsetzung der Ächtung nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Dagegen sind die USA bei der Missachtung des Gewaltverbots an vorderster Front mit dabei; von einer Durchsetzung dieser Norm wäre ihre Handlungsfähigkeit unmittelbar betroffen. Sie haben mit anderen Worten eine Norm gebrochen, die ihnen lästig ist, um eine Norm durchzusetzen, die ihnen nützt.

Dass es nicht in erster Linie um die Durchsetzung internationaler Normen geht, zeigt sich auch darin, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in der Rahmenvereinbarung der USA und Russlands zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen mit keinem Wort erwähnt wird – dabei wäre die von Human Rights Watch gerade wieder angemahnte Überweisung an den IStGH der selbstverständliche Kern eines auf Verrechtlichung der internationalen Beziehungen zielenden Umgangs mit dem Chemiewaffeneinsatz. Der Grund liegt nicht nur in einer Blockade Russlands; die USA haben die Einrichtung und Stärkung des IStGH wie kein anderer Staat systematisch hintertrieben.

Schließlich trägt die Argumentation, die Missachtung des Gewaltverbots sei gegenüber dem Gewährenlassen des Chemiewaffeneinsatzes das kleinere Übel, auch deswegen nicht, weil sie von der falschen Annahme ausgeht, dass Nichtstun und Gewaltdrohung die einzigen Alternativen waren. Tatsächlich stand ein Pfad offen, der die Aussicht geboten hätte, beide Übel zu vermeiden. Die USA hätten einen ernsthaften Versuch unternehmen können, ihre Erkenntnisse im Rahmen der VN für andere nachvollziehbar zu machen; sie hätten die Arbeit der VN-InspekteurInnen, die inzwischen auch ohne entsprechendes Mandat Hinweise in der Schuldfrage geliefert hat, respektvoll abwarten können, anstatt sie als irrelevant abzutun; und sie hätten einen breit getragenen Beschluss der Generalversammlung anstreben können. Mit anderen Worten, sie hätten die Vereinten Nationen stärken können, anstatt sie links liegen zu lassen. Hätte am Ende dieses Prozesses einem überwiegenden Willen der Weltgemeinschaft ein von Partikularinteressen geleitetes Veto Russlands und Chinas entgegengestanden, dann hätte sich die Frage einer Mandatierung am Sicherheitsrat vorbei, beispielsweise wie in unserem BDK-Beschluss vorgesehen durch eine qualifizierte Mehrheit der Generalversammlung, ganz anders gestellt. Der Beschluss spricht sich angesichts der Defizite im geltenden Völkerrecht keineswegs gegen dessen Weiterentwicklung aus; doch „die Stärkung des Völkerrechts hängt dabei entscheidend davon ab, dass in einem solchen Weiterentwicklungsprozess allein die Vereinten Nationen Entscheidungs- und Handlungszentrum bleiben.“

Dieser Beitrag hat die langfristigen völkerrechtlichen Auswirkungen in den Blick genommen. An dem tausendfachen Leid, das der Konflikt nach wie vor verursacht, werden weder die Drohungen der USA, noch die vereinbarte Vernichtung der syrischen Chemiewaffen unmittelbar etwas ändern. Man kann nur hoffen, dass der neue Geist der Zusammenarbeit zwischen den USA und Russland einen Rahmen schaffen wird, in dem eine politische Lösung gefunden werden kann. Das wäre ein äußerst wünschenswerter, aber auch zweischneidiger Erfolg – erkauft um den Preis, dass zwei Weltmächte an den VN vorbei das Spiel unter sich ausmachen und sich gegenseitig darin übertreffen, ihre Verachtung für das Völkerrecht zu dessen Durchsetzung zu verklären.

 

Ein Kommentar

  1. Bei grundsätzlicher Zustimmung mit der These, dass auch die Androhung von Gewalt einen Völkerrechtsbruch darstellt, möchte ich einige andere Akzente setzen:

    Zunächst hast du im 1. Absatz den Rahmen verkürzt definiert, wenn du zu R2P nur sagst, wann es – laut Parteiprogramm – nicht durchgesetzt werden darf, nämlich ohne VN-Mandat. R2P ist ein völkerrechtlicher Grundsatz und wird anhand der Gefahren definiert, vor denen die Menschen zu schützen seien, die – wichtigen – Durchführungsbestimmungen sind sekundär.

    Zweitens: Richtig sagst du, das Gewaltverbot sei eine „zivilisatorische Errungenschaft“, doch ist diese in der VN-Charta nur im Ansatz vorhanden, nämlich als Verbot der militärischen Gewalt als „normal“-Mittel der Politik im clausewitzschen Sinne, von Gewalt gegen Staaten. Es gibt also kein „höherwertiges“ generelles Verbot, und „weniger wertigen“ Erweiterungen dazu, sondern: Jeder Verstoß ist zunächst eben das, die jeweilige Situation muss dann abgewogen werden.

    Drittens: Die „zivilisatorische Errungenschaft“ wird erst eigentlich verwirklicht, wenn das „Gewaltverbot“ gegen Staaten in ein Verbot von militärischer Gewalt gegen Menschen überhaupt auswächst, etwa durch (bereits älteren Jahrganges, als die VN-Charta selbst) die Kriegsgefangenenbestimmungen der Genfer Konventionen (in Guantanamo mit Füßen getreten), oder eben auch das Verbot von Giftkampfstoffen; neuerdings dann auch die genannte Schutzverantwortung für Zivilbevölkerungen.

    Deine Trennung von „Gewaltverbot“ als solches von „untergeordneten“ Verboten bedeutet letztlich, da es sich bei Ersterem eben um ein Verbot von Gewalt gegen Staaten handelt, wieder mal die Priorisierung des Staates über die Menschen. Die Konsequenz wäre die alte von den Ostblockstaaten wie kaum ein anderes hochgehaltene Prinzip der „Nichteinmischung in inneren Angelegenheiten“, die natürlich von Berlin 1954 über  Budapest 1956 und Prag 1968 bis Danzig 1981 genausowenig galt wie bei den 3.-Welt-Interventionen von Indien in Bangladesch, Vietnam in Kambodscha, oder Tansania in Uganda und natürlich auch nicht in Südafrika. Für Milosevic dann plötzlich doch.

    Daher ist deine Kritik an die USA  nur teilweise (den Haag, Inspektoren, usw.) richtig, nicht aber bei deren Interesse an verschiedene „Verbote“. Vielmehr: Der US-Präsident hat sich von den rechten Kräften in den USA in eine Position manövrieren lassen, aus der er nicht mehr so einfach herauskam, und sah sich daher gezwungen, die Drohungen auszusprechen – ein Völkerrechtsbruch. Immerhin hat er dann noch die Kurve gekriegt und eine Lösung gefunden, die möglicherweise eine Breche für eine Friedensinitiative schlägt (wie du auch andeutest – s. unten), indem er das Thema Massenvernichtungswaffen wieder auf die völkerrechtskonforme Schiene brachte, an den Verhandlungstisch – und das ist verdammt wichtig. Nur die Androhung von roher Gewalt gegen hilflose Syrer und Russen zu erwähnen ist zu einfach.

    Denn: Seit 2 Jahren begeht Russland einen ständigen Völkerrechtsbruch, indem es jede Möglichkeit zur Rettung des syrischen Volkes vor dem Serientäter-Mörder in Damaskus blockiert, ja, diesem sogar die Klinge in die Hand drückt. Die Schutzverantwortung ist keine „kann“-Bestimmung, sondern ein Recht, das den Menschen in Syrien zusteht. Die Völkergemeinschaft hat die verdammte Pflicht, diesen Krieg zu beenden, die Tatsache, dass der Putin den Assad mag, ist kein Grund diese Pflicht zu vernachlässigen.

    Richtig stellst du fest, „Man kann nur hoffen, dass der neue Geist der Zusammenarbeit zwischen den USA und Russland einen Rahmen schaffen wird, in dem eine politische Lösung gefunden werden kann“ – leider um den Preis, dass „zwei Weltmächte an den VN vorbei das Spiel unter sich ausmachen.“ Leider ist aber auch genau das im bestehenden Völkerrecht vorgesehen, indem nur einige Staaten ein Vertorecht haben und Atombomben besitzen dürfen, d.h., die Verletzung der durch die Charta versprochenen heilen Welt durch diese Mächte ist geradezu vorprogrammiert. Also sehen wir die Schattenseite der Weiterentwicklung des Völkerrechts, vielleicht aber auch dessen Treiber: Seinen ständigen Bruch, durch diverse Schurkenstaaten, aber auch durch die Großmächte. Dagegen steht unsere tatkräftige Forderung, weder das eine noch das andere mehr dulden zu wollen. Aus dieser Dynamik kann eine weitere Verrechtlichung der internationalen Beziehungen hervorgehen.

    Es geht daher auch gar nicht darum, ob die Propaganda des einen oder anderen Staates (oder beider) subjektiv „ihre Verachtung für das Völkerrecht zu dessen Durchsetzung zu verklären“, sondern darum, ob aus dieser Verachtung heraus und in Reaktion darauf durch eine Weltöffentlichkeit, das Völkerrecht letztendlich objektiv gestärkt werden kann. Die Behauptung vieler, die seinerzeit die Maßnahmen gegen den Völkermörder Milosevic verurteilten, diese würden das Völkerrecht „vernichten“, sind widerlegt: Das Völkerrecht ist nicht nur quicklebendig, es ist sogar durch das darauffolgend erstellte Prinzip der Schutzverantwortung gestärkt worden.