Der Wahlprogrammentwurf zum Thema grüne Grundsicherung ist widersprüchlich. Zum Einen enthält der Entwurf das klare Bekenntnis, das soziokulturelle Existenzminimum für alle zu gewährleisten. Das ist aus grün-linker Sicht erfreulich, deckt sich allerdings nicht mit den Aussagen zu Sanktionen. Der Entwurf suggeriert, dass wir die Sanktionen als solche gut finden und bloß an ihrer Ausgestaltung arbeiten wollen. Diese Meinung ist jedoch unter Grünen keineswegs Konsens. Da die Grundsicherung per Definition das soziokulturelle Existenzminimum darstellt, widersprechen Sanktionen der Forderung nach Existenzsicherung für alle diametral.
Da die Forderung nach einem kompletter Sanktionsstopp auf der letzten BDK (leider) nicht durchsetzbar war, müssen wir mit dem Moratorium leben. Wir sollten mit aller Vehemenz darauf bestehen, dass ein solches Moratorium zur Prüfung der Sinnhaftigkeit von Sanktionen an sich dienen soll und nicht lediglich für eine bessere Ausgestaltung derselbigen ausgenutzt werden darf. Dies ist mein Hauptkritikpunkt am Grundsicherungsabschnitt.
Die Individualisierung des Grundsicherungsanspruchs und die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes verbessern wiederum den Status Quo deutlich und sind aus emanzipatorischer grün-linker Sicht sehr erfreulich.
Besonders progressiv ist der drogenpolitische Teil des Wahlprogramms. Eine derart weitgehende Forderung wie die Regulierung aller Drogen hatte ich für diesen Entwurf nicht erwartet. Hier wird deutlich, wie die lange Arbeit der Grünen Jugend sowie altgrüner Drogenpolitiker*innen in diesem Bereich Früchte trägt. Auch unsere Parteiführung steht endlich hinter einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel weg von der teuren, nutzlosen und kontraproduktiven Prohibition hin zu einem kontrollierten Umgang mit psychoaktiven Substanzen.
Entsprechend gibt es am drogenpolitischen Teil nur Kleinigkeiten zu kritisieren. Zum Einen sollte die Verbesserung der Rahmenbedingungen für substituierende Ärzt*innen im Programm stehen. Die Bundesregierung gibt in ihrem eigenen Drogen- und Suchtbericht zu, dass von über 8000 qualifizierten Suchtmediziner*innen nur 2700 substituieren. Ihre fortwährende juristische Gängelung der Substitutionsärzt*innen verschlechtert die Versorgung der Betroffenen und macht die Regierung so offen für Angriffe im Wahlkampf.
Zum Anderen muss der Satz zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsument*innen gestrichen werden. Wir haben die Legalisierung von Cannabis in unserem Steuerkonzept festgeschrieben, weswegen ein Abweichen von diesem Plan auch finanzpolitisch unehrlich wäre. Die Forderung nach der Regulierung aller Drogen ist radikal genug um als Verhandlungsmasse für die Regulierung von Cannabis zu fungieren. Natürlich weiß man im Voraus nicht, ob diese Taktik tatsächlich funktioniert, aber ein vorauseilender Gehorsam in Form einer solchen Einschränkung hat in einem kämpferischen Wahlprogramm nichts zu suchen!
Zum grünen Rentenversicherungskonzept können andere grün-linke wie Wolfgang Strengmann-Kuhn wahrscheinlich deutlich mehr sagen als ich. Ich möchte trotzdem zum Schluss dieses Diskussionsbeitrags auf unsere unkritische Haltung zur Riester-Rente hinweisen. Wir müssen uns bewusst sein, dass private Altersvorsorge immer bedeutet, noch mehr Kapital auf die Finanzmärkte zu bringen. Die Renditeerwartungen, die der Programmentwurf unkritisch lobt, ergeben sich in der heutigen Zeit entweder aus Finanzblasen, destruktiven Spekulationen oder (meist) unökologischem Wachstum, das wir an anderer Stelle im Programm zurecht kritisieren.
Auch Riester unterstützten die Delegierten auf der letzten BDK, weswegen man höchstens darauf hoffen kann, eine Überprüfung seiner Wirksamkeit im Programmentwurf zu verankern. Diese kann man gut begründen, da es selbstverständlich ist, eine derart große sozialpolitische Reform einer kritischen Evaluation zu unterziehen.
Ich freue mich auf eure Kommentare und die weitere Programmdiskussion.
PS: Aus Platz- und Kompetenzgründen habe ich den Gesundheitsbereich in diesem ersten Kommentar zum Sozialkapitel weitestgehend ausgeklammert.