Zum Europawahlprogramm der Grünen (Präambel)
Der erste Absatz des Europakapitels im Koalitionsvertrag der großen Koalition sagt bereits viel aus: „Die Europäische Union (EU) durchläuft eine historisch einzigartige Periode wirtschaftlicher, sozialer und institutioneller Veränderungen und Neuerungen.“ Das ist ein fast schon grotesker Versuch einer maßlosen Untertreibung. In Wirklichkeit befinden sich viele europäische Staaten in der schwersten Krise seit den 1930er Jahren. Horrende Arbeitslosenzahlen, Menschen, die ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen können und einerstarkender Rechtspopulismus an vielen Orten Europas sind an der Tagesordnung. Die große Koalition gibt in ihrem Koalitionsvertrag einen Vorgeschmack auf ihre Strategie für die Europawahlen, und diese erinnert an die Kampagne der Union bei der Bundestagswahl: „Uns geht es doch gut, was wollt ihr denn eigentlich? Kritik an der bisherigen Politik? Quatsch, es läuft doch alles bestens, wir machen weiter wie bisher.“
Wir Grünen sind somit in der schwierigen Rolle: Wir müssen einen Spagat absolvieren zwischen einer Kritik an vielen Dingen, die in der EU gerade falsch laufen, und einer Verteidigung des europäischen Projekts. Einerseits ist es an uns, die Politik der Bundesregierung mit ihrem „weiter so“ herauszufordern und in der Gesellschaft das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die von Merkel vorangetriebene Politik weder für die Menschen in den Krisenstaaten noch für das europäische Projekt als Ganzes und damit schlussendlich auch nicht für Deutschland gut ist. Wir müssen die rückwärtsgewandte Politik der EU, was die Klima-, Umwelt- oder Flüchtlingspolitik angeht, die momentan im Rat und im Europaparlament durch Mehrheiten aus Konservativen und Sozialdemokraten getragen wird, an den Pranger stellen. Andererseits haben gerade wir Grüne als die Europapartei die dringende Aufgabe zu erfüllen, die europäische Einigung mit all ihren Vorteilen gegen Nationalist*innen und Populist*innen zu verteidigen. Unsere Zukunft liegt in der EU, mit all ihren Schwächen, dazu stehen wir und kämpfen daher für die europäische Einigung.
Diese Balance zu finden, wird für den Wahlkampf eine große Herausforderung und war auch im Entstehungsprozess der Präambel und des gesamten Programmentwurfs eine der schwierigsten Aufgaben. Der Stimmungspegel in den verschiedenen Entwürfen schwankte immer zwischen einer extremen Kritik am Zustand und aktuellen Entscheidungen in der EU und einer „mutmachenden“ Begeisterung für Europa. Im jetzigen Entwurf überwiegt letztendlich die positive Herangehensweise an die EU und die Kritik richtet sich vor allen Dingen gegen konkrete Politiken und nicht gegen den Zustand der EU als Solches. Auch die Frage, wie stark wir einen Angriff auf Merkels Krisenpolitik machen sollten, wurde heiß debattiert. Ich finde, es ist eine gute Balance gelungen. Die Kritik an der einseitigen Austeritätspolitik ist eindeutig im Programm verankert, aber sie dominiert nicht den gesamten Text und ist ausdifferenziert vorgetragen. Dass so manche Realos in diesem Punkt gerade eine Debatte vom Zaun brechen wollen verwundert deshalb.
mitentscheiden, erneuern, zusammenhalten
Wir haben uns in der Schreibgruppe nach langen Diskussionen auf drei Begriffe festgelegt, die unsere Vorstellung von Europa und unsere europapolitischen Forderungen kondensieren: mitentscheiden, erneuern, zusammenhalten. Mitentscheiden zielt offensichtlich auf die Demokratie ab. Obwohl die EU in den letzten Jahren viele Reformschritte hin zu mehr Demokratie unternommen hat, ist sie für Viele immer noch das weit entfernte Raumschiff Brüssel. Maßnahmen im Rahmen der Krisenpolitik haben das Parlament immer mehr außen vor gelassen. Wir Grüne hingegen wollen Europa näher an die Bürger*innen bringen und das Parlament zum zentralen Entscheidungsort machen. Erneuern bezieht sich auf die Neuausrichtung der inhaltlichen Politik. Die EU hat eine ökologische Transformation bitter nötig und braucht dringend eine Energiewende und eine bessere Klimapolitik. Zusammenhalten kann in zweierlei Hinsicht interpretiert werden. Zusammenhalten bedeutet solidarisch zu sein, zwischen den Mitgliedsstaaten – aber auch als europaweit gelebte Solidarität zwischen den Menschen in Europa. Zusammenhalten bedeutet auch, dass wir ein Auseinanderdriften und ein Auseinanderfallen Europas – z.B. in Süd und Nord oder Eurozone und Nicht-Eurozone – nicht zulassen werden.
Stellt der Entwurf des Europawahlprogramms eine inhaltlich-strategische Kehrtwende nach der verlorenen Bundestagswahl dar? Ich behaupte, nein. Zwar wurde sich bemüht, das Programm kürzer und lesbarer zu machen und weniger technisches Klein-Klein unterzubringen. Aber eine Kehrtwende in der Substanz und ein Zurückschrecken für nicht ganz so bequeme Entscheidungen lassen sich nicht beobachten. Viele Vorschläge, die auf den ersten Blick auch nicht wie die absoluten Kampagnenschlager aussehen, sind weiterhin im Programm enthalten – wenn auch ein wenig abgeschwächter als in den ersten Fassungen. Und sie beziehen sich nicht nur auf Ökologie, Klimaschutz und die Energiewende. Nach dem U-Turn der SPD sind wir die einzigen, die einen solidarischen Abbaupfad für die hohe Verschuldung in vielen Ländern vorschlagen. Und die weg wollen von einer einseitigen Austeritätspolitik und Strukturreformen, die vermeintlich mehr Wettbewerb schaffen – ohne wie die Linkspartei die Notwendigkeit für solide Staatsfinanzen zu verkennen. Und die dazu stehen, dass ohne gewisse Transferleistungen und Ausgleichsmechanismen auf die Dauer keine gemeinsame Währung zu halten ist. Insofern ist das Programm sehr mutig, denn es schaut weniger nach der vermeintlichen Stimmungslage in Deutschland sondern nach den Maßnahmen, wie wir für richtig erachten, damit Europa aus der Krise kommt.
14. Dezember 2013 um 11:34
Ich lese gerade den grünen Programmentwurf und muss dabei feststellen, dass er von vollkommen falschen Annahmen ausgeht.
So wird z.B. behauptet, dass das Sparen der europäischen Staaten alleine nicht reicht, um aus der Krise zu kommen. Das suggeriert, dass das Sparen uns aber zum Teil aus der Krise hilft. Das ist eine Verkennung der Fakten. Das Sparen der Staaten in der Krise wirkt sich krisenverschärfend aus, es ist nicht Teil der Lösung sondern Teil des Problems.
Das führt dann dazu, dass behauptet wird, man müsste zur Krisenbewältigung zusätzlich eine investive Politik in Form des Green New Deals machen, um die Lösung, die zu einem Teil aus Sparen besteht zu vervollkomnen. Entscheidend ist aber am Ende das Saldo, d.h. ob eine Politik eher investierenden oder sparenden Charakter hat. Da der Staat in der Krise das Sparen der privaten Haushalte ausgleichen sollte, muss er mindestens in dem Maße seine Ausgaben steigern, wie diese sie zurückfahren. Andernfalls rutschen wir in eine Rezession oder, wie bei der Finanzmarkt- und Eurokrise, in eine lang anhaltende Depression, da das Sparen des Staates zu weiteren Einnahmeausfällen der privaten Haushalte führt und diese zu weiterem Sparen verleitet. Für den Staat bedeutet das sinkende Steuereinnahmen und wachsende Ausgaben im sozialen Bereich. Das ist ein negativer, sich selbst verstärkender Prozess.
Ein weiteres Problem des Programms besteht darin, dass es den Euro für ein politisches Projekt zur Vertiefung der europäischen Integration hält. Das ist leider auch falsch. Der Euro ist zuerst und ganz zuforderst eine Währung und im speziellen eine Währung mit schwerwiegenden Problemen bzgl. seiner Konstruktion und die Probleme, die wir nur wenige Jahre nach seiner Einführung haben waren von vorneherein absehbar. Und diese Probleme sind absolut geeignet, die Europäische Union, die ja das eigentliche europäische Projekt ist, in seine Einzelteile zu zerlegen. Wer den Euro und die EU gleichsetzt, der muss so handeln, dass er am Ende beides verlieren muss, weil er unfähig sein wird, die richtigen Entscheidungen bzgl. des Euro zu treffen.
Der Versuch, so unterschiedlichen Ländern wie denen in der EU eine gemeinsame Währung zu geben, ist ein Experiment mit einem offenen Ausgang. An seinem Ende kann auch die Aufgabe des Euro stehen, wenn sich die Probleme, die sich bei diesem Unterfangen ergeben, nicht lösen lassen. Das setzt aber voraus, dass man die Entwicklung des Euro kritisch beobachtet und im Zweifel auch bereit ist, ihn aufzugeben. Das macht ihn aber ungeeignet, die politische Intergration der EU zu vertiefen, weil man nicht Gedeih und Verderb der EU an das Gedeih und Verderb des Euro knüpfen kann, es sei denn, man ist bereit, für den Euro alles aufs Spiel zu setzen.
Allein diese beiden Beispiele zeigen, dass man in das grüne Programm wenig Hoffnung setzen kann. Man kann damit vielleicht Wahlen gewinnen, weil es sich am Mainstream orientiert, aber es kann unter diesen Voraussetzungen sicher ganz gewiss nicht Teil der Lösung und zu einem besseren Europa führen und es trägt auch nicht zu der Auseinandersetzung bei, die man in Europa führen müsste, damit das europäische Projekt nicht zerbricht. Und das ist traurig. Grün ist so nicht dass, was wir Grüne immer wollten – eine Alternative sein und Alternativen aufzeigen.